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Vor einer Woche, am 22. Juli 2024, veröffentlichte das Oberverwaltungsgericht (OVG) Nordrhein-Westfalen in Münster eine Presseerklärung zu einem neuen Urteil. Der Tenor der Presseerklärung schaffte es direkt auf Titelseiten und bis ins Sommerinterview mit dem Bundeskanzler: Es gebe keine bürgerkriegsbedingte ernsthafte allgemeine Gefahr für Leib und Leben der Zivilbevölkerung in Syrien, so das OVG. Deswegen bräuchten Syrer*innen auch keinen sogenannten subsidiären Schutz.
Diese Schlagzeile wurde dankbar von denjenigen aufgegriffen, die schon zuvor Abschiebungen von Straftäter*innen und Gefährder*innen nach Syrien gefordert hatten. Dass es im Verfahren vor dem OVG nicht um eine drohende Abschiebung und deren Legitimität ging, spielt in der öffentlichen Debatte bislang keine Rolle.
Richter*innen gehen weit über das hinaus, was für den Fall relevant war
Die Krux an der Sache: Die schriftliche Urteilsbegründung lag nicht vor, als das Gericht das Urteil öffentlich machte. Deshalb hatten Asylrechtsexpert*innen kaum die Chance, die tatsächlichen Argumentationen und möglichen Konsequenzen zu beurteilen. Erst drei Tage später – nachdem die Berichterstattung wieder abgeflaut war – veröffentlichte das Gericht die Urteilsbegründung. PRO ASYL hat sie analysiert – und ist erschrocken über die dünne Faktenlage, auf die die Richter*innen ihre Beurteilung stützen.
Das Gericht trifft zudem allgemeine Einschätzungen zur Sicherheitslage in Syrien, die für die Debatte folgenreich sind – in dem konkreten Fall aber keine Rolle spielen. Diese allgemeinen Einschätzungen, könnten deswegen im vorliegenden Fall durch das Bundesverwaltungsgericht nicht geklärt werden, da der Kläger aufgrund seiner Verurteilung vom subsidiären Schutz ausgeschlossen ist – das stellt das Gericht selbst fest und lässt deswegen eine Revision nicht zu. Es hinterlässt vor den Debatten der letzten Wochen ein Geschmäckle, dass die Richter*innen in Münster sich zu diesen, für den Fall unnötigen, Aussagen haben hinreißen lassen.
Der konkrete Fall
Dem Urteil liegt der Fall eines straffällig gewordenen Syrers zugrunde. Aufgrund der Straftat hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ihm weder eine Flüchtlingseigenschaft noch einen subsidiären Schutz zugesprochen, da ein sogenannter Ausschlussgrund vorliege. Stattdessen erhielt er ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz, da das Folterverbot von Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention eine Abschiebung verbiete. Gegen die Ablehnung des Flüchtlingsschutzes und des subsidiären Schutzes klagte der Mann und bekam im Jahr 2019 vom Verwaltungsgericht Recht. Das BAMF ging in Berufung und so kam der Fall zum OVG Münster.
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Eigentlich geht es in dem Rechtsstreit primär darum, ob die Straftat der Schleusung, für die er in Österreich verurteilt wurde, schwerwiegend genug ist, um einen Ausschlussgrund zu rechtfertigen. Die Richter*innen prüften jedoch zunächst, ob der Flüchtlingsschutz beziehungsweise der subsidiäre Schutz hypothetisch in Frage kommen würden.
Bezüglich des Flüchtlingsschutzes wiederholte der OVG seine bisherige Rechtsprechung, dass weder die illegale Ausreise aus Syrien allein noch der Entzug vom Reservedienst in der syrischen Armee zu einer erheblichen Verfolgungsgefahr führe. Da es bisher kaum zu Ablehnungen des subsidiären Schutzes gekommen ist – in diesem Fall auch nur wegen eines Ausschlussgrundes – ist es jedoch das erste Mal, dass sich ein OVG näher mit der Frage des subsidiären Schutzes befasst.
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Völkerrechtswidrige Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien sind damit unvereinbar
Der subsidiäre Schutz aufgrund eines bewaffneten Konfliktes
Subsidiärer Schutz kann aus drei unterschiedlichen Gründen vergeben werden. Am bekanntesten ist der Schutz vor Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Asylgesetz). Vielfach wird in der öffentlichen Debatte fälschlicherweise angenommen, dass Syrer*innen subsidiären Schutz bekommen, weil in Syrien noch immer ein Bürgerkrieg herrscht. Tatsächlich bekommen sie ihn in fast allen Fällen aus einem anderen Grund: weil ihnen bei einer möglichen Rückkehr Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung drohen.
Doch auch das OVG Münster prüft hauptsächlich die Gefahr durch den Bürgerkrieg. Hierbei wird nicht nur die Herkunftsprovinz des Antragstellers, Hasaka, auf diese Frage hin untersucht, sondern es werden auch bei allen Provinzen die Opferzahlen der jeweiligen Fläche und der Gesamtbevölkerung gegenübergestellt. Daraus schlussfolgert das Gericht, dass die Gefahrendichte nicht hoch genug sei. Damit widerspricht das Gericht dem Bericht der EU-Asylagentur EUAA von April 2024, der für die Provinz Hasaka, aber auch für viele andere Provinzen Syriens, zu dem Schluss kommt, dass die willkürliche Gewalt ein solches Ausmaß erreiche, dass eine zurückgekehrte Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer ernsthaften Bedrohung ausgesetzt sei und daher subsidiären Schutz benötige.
Missachtung von EuGH-Rechtsprechung zum subsidiären Schutz
Mit diesem primären Abstellen auf den quantitativen »body count«-Ansatz missachtet das OVG auch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union. Dieser hat 2021 festgestellt, dass für die Vergabe des subsidiären Schutzstatus eine solche Berechnungsquote (Verhältnis von zivilen Opfern zur Gesamtbevölkerung) allein nicht ausreichend sei, um die Sicherheitslage beurteilen zu können. Stattdessen müssen alle Umstände des Einzelfalls und Aspekte des Konfliktes umfassend berücksichtigt werden. Dieses Urteil hat die EUAA in ihren Ausführungen deutlich mehr berücksichtigt als das OVG Münster.
In die Überlegungen, welche Provinzen ausreichend sicher sind, reiht sich auch Justizminister Marco Buschmann (FDP) mit seiner Aussage ein, man könne »nicht mehr pauschal sagen, dass die Sicherheitslage im gesamten Land überall gleich ist, sondern es muss genau hingeschaut werden«. Doch daraus abzuleiten, dass Syrer*innen aus bestimmten Provinzen keinen subsidiären Schutz mehr benötigen, ist falsch.
Der subsidiäre Schutz aufgrund der Gefahr von Folter
Tatsächlich erhalten die meisten Syrer*innen in Deutschland den subsidiären Schutz nicht wegen des Bürgerkriegs, sondern wegen der Gefahr, Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung zu erleiden (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG). So bekamen im Jahr 2023 90 Prozent der syrischen Asylsuchenden, denen vom BAMF subsidiärer Schutz erteilt wurde, diesen Schutz, weil ihnen bei einer Rückkehr nach Syrien Folter oder unmenschliche Behandlung drohen (siehe auch eine gute Übersicht beim Mediendienst Integration).
Im Vermerk zu einer PRO ASYL vorliegenden aktuellen BAMF-Entscheidung zur Zuerkennung von subsidiärem Schutz aus diesem Grund heißt es: »Nach derzeitigen Erkenntnissen besteht grundsätzlich in keinem Teil Syriens Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Folter, unmenschlicher oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung. Es ist weiterhin in keinem Teil Syriens Rechtssicherheit und/oder Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Folter insbesondere durch rivalisierende militärische und zivile Geheimdienste sowie Milizen anzunehmen. Auf Grundlage dieser Informationen kann es grundsätzlich zu einer Verletzung elementarer Menschenrechte kommen. Zudem kann unabhängig von einer vermuteten Regimegegnerschaft grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden, dass es im Rahmen von Rückkehrerbefragungen zu willkürlichen Übergriffen bis hin zum ‘Verschwindenlassen’ von Personen kommt. Immer wieder sind Rückkehrer erneuter Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu Gefährdung für Leib und Leben ausgesetzt.«
Schwache Tatsachengrundlage bei der entscheidenden Frage
Mit der Frage des subsidiären Schutzes aufgrund einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit von Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung setzt sich das OVG Münster aber – obwohl es die entscheidende Frage ist – auf nur zwei Seiten auseinander (Urteil, ab S. 80).
Zuvor (im Abschnitt zur möglichen Flüchtlingseigenschaft, ab S. 8) befassen sich die Richter*innen bereits mit der Frage, ob Rückkehrer*innen eine Gefahr droht. Dabei schlagen sie Berichte von Amnesty International und Human Rights Watch genauso wie die Einschätzung des Auswärtigen Amtes in den Wind.
Die Feststellung des Auswärtigen Amtes, Rückkehrende würden vom Regime häufig als Verräter*innen deklariert und seien daher mit weitreichender systematischer Willkür bis hin zu vollständiger Rechtlosigkeit konfrontiert, zweifelt das Gericht an und stellt die konkrete Tatsachengrundlage infrage (Urteil, S. 24). Dabei verkennt es, dass der Lagebericht auf einer Vielzahl von vielen, auch nicht-öffentlichen, Quellen beruht: von UN-Organisationen wie UNHCR über die unabhängige internationale Untersuchungskommission zu Syrien und verschiedene syrische Menschenrechtsorganisationen bis hin zu anderen westlichen Staaten, die in Syrien – anders als Deutschland – weiterhin eine Auslandsvertretung haben.
Auch aktuelle Veröffentlichungen und Berichte internationaler Nichtregierungsorganisationen werden in dem Bericht des AA berücksichtigt.
Das OVG hingegen berücksichtigt nur eine einzige Quelle: Eine nicht näher bezeichnete syrische Menschenrechtsorganisation, die 2022 vom Dänischen Migrationsdienst DIS befragt wurde. Die Protokollnotizen dieses Treffens stuft das Gericht pauschal als plausibel ein, ohne dass auch nur erkennbar wäre, ob und inwiefern die Aussagen unabhängig getroffen wurden und in welchem Verhältnis die Organisation in Syrien zur Regierung steht. Auch im Verfassungsblog wird diese Entscheidungsgrundlage als »dünn« kritisiert.
Was bedeutet das Urteil für die Praxis?
Das Medienecho, das auf das Urteil folgte, war laut und diente einigen Politiker*innen dazu, die Debatte über Abschiebungen nach Syrien wieder zu befeuern. Ob es rechtlich möglich ist, Abschiebungen nach Syrien wieder aufzunehmen, war aber nicht Inhalt des Urteils und wird auch nicht die Folge davon sein. Aus der Presseerklärung des Gerichts ging es noch nicht hervor, aber inzwischen ist klar: Der Betroffene hatte bereits ein Abschiebungsverbot. Es war somit auch nicht Gegenstand des Verfahrens, ob der Mann tatsächlich abgeschoben werden könnte; wichtige Umstände hierfür, wie zum Beispiel die humanitären Bedingungen in Syrien, wurden gar nicht erörtert.
Über den Einzelfall hinaus muss auch festgehalten werden, dass ein OVG-Urteil zwar oft einflussreich, aber keinesfalls für andere Gerichte bindend ist. Zwischen den 15 Oberverwaltungsgerichten in Deutschland sind Meinungsverschiedenheiten zudem nicht selten. Ob das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge das Urteil zum Anlass nimmt, um die Entscheidungspraxis zu ändern, ist nicht vorherzusagen; es wäre aber angesichts der dünnen Faktenlage überraschend und könnte spätestens dann von anderen Gerichten kassiert werden.
Neues Urteil:
Syrische Kriegsdienstverweigerer haben doch Anspruch auf Asylfolgeverfahren
Auch eine Gefahr von Widerrufen bereits bestehender Schutzzuerkennungen besteht aufgrund des Urteils nicht, da der überwiegende Grund der Zuerkennungen von subsidiärem Schutz (Gefahr von Folter) nicht weggefallen ist. Dies wäre erst der Fall, wenn sich die Lage in Syrien wesentlich und nicht nur vorübergehend verbessert.
Druck aufs Auswärtige Amt
Von vielen Seiten wird seit dem Aufflammen der Debatte über Abschiebungen nach Syrien gefordert, dass der Lagebericht des Auswärtigen Amtes aktualisiert werden müsse. Das Auswärtige Amt vertritt aber, anders als von manchen Kritiker*innen dargestellt, keine Minderheitenmeinung. Im Einklang mit Einschätzungen von Organisationen wie UNHCR, IOM und IKRK stellt es fest: »Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann derzeit für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden«. Wenn es diese Einschätzung nun allein aufgrund von politischem Druck ändern würde, könnte dies nur als Einknicken vor einer unsachlichen öffentlichen Debatte und dem zunehmenden Populismus auch demokratischer Parteien gewertet werden.
(jb, wj)
The post An der Realität vorbei: Das Urteil des OVG Münster zu Syrien first appeared on PRO ASYL.