Die »sicheren Herkunftsstaaten« des Westbalkans: Eine kritische Analyse

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Nordmazedonien im Jahr 2023: Zwei Frauen wenden sich mehrfach an die Polizei, um Schutz vor ihren gewalttätigen Partnern zu suchen. Doch vergeblich. Von den Behörden werden sie alleingelassen. Dann sind sie tot – ermordet von eben jenen Männern. Auch die Mutter einer der Frauen wurde getötet. Es ist kein Einzelfall, von dem das mazedonische Helsinki-Komitee im September 2023 berichtete.

Für die deutsche Bundesregierung aber gilt Nordmazedonien seit 2014 als »sicherer Herkunftsstaat«. Alle zwei Jahre muss sie dem Bundestag einen Bericht vorlegen, um zu prüfen, ob die Einstufung bestimmter Staaten als »sichere Herkunftsstaaten« weiterhin gerechtfertigt ist (§ 29a Abs. 2a AsylG). Der vierte Bericht, veröffentlicht am 15. März 2024, bestätigt erneut die Sicherheit der Westbalkanstaaten Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien. Das ist mehr als verwunderlich, denn die gesetzlichen Hürden für eine solche Einstufung sind hoch: Die Rechtslage, die Anwendung des Rechts und die allgemeinen politischen Verhältnisse werden betrachtet, und wenn auch nur in einzelnen Landesteilen Minderheiten unmenschlich behandelt oder bestraft werden, darf das Land nicht als sicher eingestuft werden. Die Einstufung als »sicher« ist ein wichtiges Kriterium, um geflüchtete Menschen in diese Länder zurückschicken zu können – und betrifft damit viele Schutzsuchende unmittelbar.

Ein umfassender Schattenbericht des Politikwissenschaftlers Seán McGinley, veröffentlicht von PRO ASYL, hinterfragt die Bewertung der Bundesregierung kritisch. Er konzentriert sich auf Ereignisse und Entwicklungen seit 2022, die erhebliche Zweifel an der Einstufung als »sicher« aufwerfen. Dabei liegt der Fokus auf der praktischen Umsetzung von Rechten und Freiheiten sowie auf menschenrechtlichen Defiziten, die der Bericht der Bundesregierung kaum beleuchtet. Ziel ist es, ein realitätsnahes Bild zu zeichnen und eine fundierte Ergänzung zu den allzu beschönigenden Darstellungen der Regierung zu bieten.

Das Konzept der »sicheren Herkunftsstaaten«  als politisches Instrument

Die Einstufung bestimmter Länder als »sichere Herkunftsstaaten« wurde 1993 im Rahmen des sogenannten Asylkompromisses eingeführt und hat sich seither zu einem zentralen, aber umstrittenen Instrument der deutschen Asylpolitik entwickelt. Ziel war es, Asylverfahren für Menschen aus diesen Staaten zu beschleunigen, da angenommen wird, dass dort keine politische Verfolgung stattfindet. Länder wie die Westbalkanstaaten wurden als »sicher« eingestuft, oft weniger basierend auf einer tatsächlichen Verbesserung der Menschenrechtslage als auf politischen und migrationspolitischen Erwägungen.

In der Praxis bedeutet diese Einstufung eine erhebliche Einschränkung für Asylsuchende. Ihre Anträge werden häufig als »offensichtlich unbegründet« abgelehnt, was zu beschleunigten Verfahren und verkürzten Fristen für Rechtsmittel führt. Für Angehörige der Roma-Minderheit oder politisch Verfolgte wird der Zugang zu einem fairen Asylverfahren dadurch massiv erschwert. Besonders problematisch ist die Beweislastumkehr: Denn vor dem Hintergrund der gesetzlich angenommenen Sicherheit des Herkunftslandes, ist es besonders schwierig, eine individuelle Verfolgung zu beweisen. PRO ASYL lehnt das Konzept der »sicheren Herkunftsstaaten« deswegen als nicht vereinbar mit dem Anspruch auf ein faires und unvoreingenommenes Asylverfahren grundsätzlich ab.

PRO ASYL und andere Menschenrechtsorganisationen kritisieren zudem, dass die Einstufung nicht auf einer umfassenden Analyse der Lage in den betroffenen Staaten basiert. Diskriminierungen und strukturelle Defizite, insbesondere für Minderheiten, bleiben häufig unbeachtet. Hinzu kommt, dass die Bedingungen für Asylsuchende aus diesen Ländern – von Schnellverfahren über Lagerunterbringung bis hin zu Arbeitsverboten – absichtlich abschreckend gestaltet sind.

Das Konzept der »sicheren Herkunftsstaaten« steht damit in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Recht auf Schutz und migrationspolitischen Überlegungen. Viele Entscheidungen diesbezüglich folgen eindeutig eher politischen Zielen als menschenrechtlichen Standards.

Häusliche Gewalt, Diskriminierung, hohe Kindersterblichkeit

Das Gutachten geht detailliert auf die spezifischen gravierenden Probleme ein, mit denen jedes Land konfrontiert ist.

In Albanien zeigt sich die unzureichende Umsetzung von Maßnahmen gegen häusliche Gewalt: Trotz Gesetzen und Strategien fehlen effektive Schutzmechanismen. »Obwohl es jedes Jahr mehrere tausend angezeigte Fälle häuslicher Gewalt gibt, sind in ganz Albanien nur 30 kurzfristige und 32 langfristige Plätze in Frauenhäusern vorhanden.« (S. 13 des Gutachtens) Opfer berichten, dass Polizei und Justiz Gewalt oft bagatellisieren und Frauen zu einer Versöhnung mit ihren gewalttätigen Partnern drängen. Hinzu kommt Diskriminierung von Minderheiten wie der Roma*-Gemeinschaft, die auch im Bildungssystem stark benachteiligt wird.

In Bosnien-Herzegowina leiden Frauen, von denen fast jede zweite ab 15 Jahren Formen häuslicher Gewalt erfährt, unter einem Mangel an Schutzmaßnahmen, wobei 84 % der Betroffenen keine Anzeige erstatten. Die LGBT*-Community ist Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt, die oft staatlich geduldet werden. Gleichzeitig steht die Medienfreiheit unter massivem Druck.

Im Kosovo sind insbesondere das Gesundheits- und Sozialsystem in einem besorgniserregenden Zustand: Die Kindersterblichkeit ist dreimal so hoch wie der EU-Durchschnitt, und für Neugeborene fehlen landesweit ausgestattete Rettungsfahrzeuge. In dieser Region besonders stark betroffen sind Roma*, Ashkali und die sogenannte »Ägyptische Gemeinschaft«, eine ethnische Minderheit, die eng mit der Gemeinschaft der Roma und Ashkali verwandt ist.

Auch in den übrigen Westbalkan-Staaten sind schwere Defizite dokumentiert. In Montenegro bestehen weiterhin Verbindungen zwischen Korruption auf höchster Ebene und organisierter Kriminalität. In Nordmazedonien wird das Recht von inhaftierten Kindern auf Bildung ignoriert, und ein Drittel der Bevölkerung lebt in Armut. Roma* erfahren systematische Diskriminierung im Justizsystem und in Gefängnissen, in denen oft menschenrechtswidrige Zustände herrschen. Der Bericht zeigt auf, dass sie »häufig zu Unrecht beschuldigt und unter Druck gesetzt werden, Geständnisse abzulegen, und vor Gericht oft keine faire Chance erhalten.« (S. 52 des Gutachtens)

In Serbien setzen Geheimdienste »umfangreiche Überwachung gegen Kritiker*innen der Regierung ein« (S. 63 des Gutachtens) und es gibt Repressionen durch staatliche Stellen, die Medienfreiheit und Rechtsstaatlichkeit einschränken. Auch in Serbien sind soziale Sicherungssysteme und der Schutz von Minderheiten unzureichend.

Fazit des Schattenberichts: Einstufung als »sicher« trotz gegenteiliger Belege

Aus all diesen Gründen kritisieren McGinley und PRO ASYL den Bericht der Bundesregierung scharf. Es wird deutlich, dass er die gesetzliche Verpflichtung zu einer fundierten Bewertung der Einstufung als »sicherer Herkunftsstaat« nicht erfüllt. Statt eine umfassende Analyse vorzulegen, beschränkt sich die Bundesregierung  darauf, rechtliche Rahmenbedingungen und institutionelle Strukturen darzustellen. Wie die Gesetze tatsächlich umgesetzt werden und wie wirksam dies im Alltag der Betroffenen ist, wird kaum berücksichtigt. Themen wie geschlechtsspezifische Gewalt, Diskriminierung von LGBT*-Personen, Einschränkungen der Pressefreiheit und die systematische Ausgrenzung von Minderheiten, insbesondere Roma, werden entweder oberflächlich behandelt oder gänzlich ignoriert.

Besonders problematisch ist, dass die Bundesregierung offensichtliche Diskrepanzen zwischen formalen rechtlichen Vorgaben und der gelebten Realität in diesen Ländern zwar anführt, sie jedoch nicht in ihre abschließende Bewertung einfließen lässt. Stattdessen wird die Einstufung der Staaten als »sicher« trotz gegenteiliger Belege aufrechterhalten, was den Eindruck erweckt, dass politische Interessen Vorrang vor einer ernsthaften Prüfung der Menschenrechtslage haben.

PRO ASYL fordert daher eine umfassendere und empirisch fundierte Prüfung der tatsächlichen Verhältnisse in den betroffenen Staaten. Nur so kann verhindert werden, dass die Einstufung als »sicher«die Rechte schutzbedürftiger Personen weiter aushöhlt und Asylverfahren auf einer unzureichenden Basis geführt werden. Die Bundesregierung steht in der Verantwortung, nicht nur formale Vorgaben zu erfüllen, sondern eine realitätsnahe und menschenrechtskonforme Bewertung vorzunehmen. Letztlich wäre die grundsätzliche Abkehr von dem Konzept der »sicheren Herkunftsstaaten« der beste Weg, um das individuelle Recht auf Asyl zu achten.

(nb, ll)

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