Rückkehr unmöglich: Im Irak geraten Jesid*innen zwischen alle Fronten

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Gutachten

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Zehn Jahre nach dem Völkermord: Zur Lage der Jesidinnen und Jesiden im Irak

»Wir haben am Anfang Wiederaufbauhilfe gefordert, die Bestrafung der IS-Täter, Entschädigungen. Aber wir sind bescheiden geworden. Wir wollen nur noch Sicherheit, auf die können wir nicht verzichten.« Diese Aussage einer Jesidin, die im Gutachten zitiert wird, illustriert, wie verfahren die Situation im Norden des Iraks ist: Jesidische Frauen, Männer und Kinder, die auch zehn Jahre nach dem Völkermord immer noch in Lagern leben, fürchten um ihre Sicherheit – ein normales Leben an ihren ursprünglichen Wohnorten oder gar eine Strafverfolgung derer, die den Völkermord an den Jesid*innen verübt haben, sind in unerreichbarer Ferne.

Spätestens seitdem die Terrororganisation Islamischer Staat im Jahr 2014 an den Jesid*innen einen Völkermord begangen hat, ist das Sinjar-Gebiet im Nordirak, in dem die Jesid*innen seit Jahrhunderten leben, zu einem lebensgefährlichen Brennpunkt geworden. Das zeigt eindrücklich das im April 2024 veröffentlichte Gutachten »Zehn Jahre nach dem Völkermord: Zur Lage der Jesidinnen und Jesiden im Irak«. Geschrieben hat es der Historiker Oliver M. Piecha, Mitbegründer der seit 30 Jahren im Nahen Osten aktiven deutsch-irakischen Hilfsorganisation Wadi e.V.

Die Jesid*innen (andere Schreibweisen unter anderem Yeziden, Eziden) mit heute vermutlich einer Million Mitgliedern sind eine monotheistische Religionsgemeinschaft, die ursprünglich im Südosten der Türkei, im Nordirak und Nordostsyrien lebte. Ihr Ursprung liegt im Dunkeln, es gibt Hinweise auf altiranische Elemente in ihrem Kultus, die Jesid*innen selbst sehen sich als sehr alte Religion. Geschichtlich fassbar werden sie ab dem 11./12. Jahrhundert. Im jesidischen Glauben sind diverse Einflüsse identifizierbar. Ihre religiösen Überlieferungen wurden bis in die Neuzeit ausschließlich mündlich weitergetragen – mündliche Überlieferung sowie sehr komplexe direkte soziale Beziehungen spielen in ihrer religiösen Praxis eine zentrale Rolle. Demnach wird man »richtig« jesidisch durch Geburt, wenn Vater und Mutter jesidisch sind. Zur Überlebensstrategie der Gemeinschaft gehörten eine rigorose Abschottung in abgelegenen Siedlungsschwerpunkten und eine strikte Endogamie.

Jesid*innen werden seit Jahrhunderten wegen ihrer Religion diskriminiert, angegriffen und verfolgt. Dazu zählen auch Bemühungen, sie zwangsweise zum Islam zu bekehren, zum Beispiel in der Türkei noch in den 1980er-Jahren mit einem Zwang zum muslimischen Religionsunterricht.

Jesid*innen werden oft als Kurd*innen identifiziert, auch wegen ihrer meist kurdischen Sprache. Es gab auch Bemühungen, etwa im Irak, sie als Araber*innen zu bestimmen. Teile der jesidischen Gemeinschaft definieren sich als eigenständiges Volk. Seit dem Beginn der Moderne im Nahen Osten – und damit der Idee des Nationalismus – wurden Jesid*innen immer wieder gezwungen, sich national und ethnisch zu positionieren oder ihnen wurde eine Zugehörigkeit aufgedrückt.

Ein Resultat der Verfolgung und Diskriminierung der Jesid*innen ist, dass sie kaum noch dort leben, wo sie noch vor 50 Jahren hauptsächlich gelebt haben. Die große Ausnahme war bis 2014 der Irak, wo immer noch die Hauptsiedlungsgebiete der Jesid*innen liegen. In der Türkei und Syrien sind sie als erkennbare Minderheit weitgehend verschwunden. In Syrien sind sie von der Fluchtbewegung seit 2012/13 mitbetroffen. Die Türkei verließen viele schon als Gastarbeiter*innen, ab den 1980ern dann auch als Flüchtlinge.

NEWS

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Bundesregierung forciert heimlich Abschiebungen in den Irak

Im strategisch wichtigen Grenzgebiet zwischen Irak, Syrien, Türkei und Iran prallen die Interessen aufeinander. Staatliche und nicht-staatliche Akteure kämpfen, teils mit Waffen, rücksichtslos um Macht und Einfluss – die Jesid*innen, die zu keiner dieser Gruppen gehören, stehen zwischen allen Fronten. 200.000 harren noch immer in irakischen Flüchtlingslagern aus, ohne Aussicht, sie in absehbarer Zeit verlassen zu können. Auch eine sogenannte innerirakische Fluchtalternative gibt es nicht, weil eine jesidische Familie nicht in einen anderen Landesteil gehen kann, denn dort wäre sie ohne die lebenswichtige Gemeinschaft und ohne Schutz.

NEWS (2023)

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Abschiebefälle 2023:

Die Behörden kennen kaum noch Grenzen

Die prekäre Sicherheitslage wird sich nicht grundlegend ändern, solange der Konflikt in Syrien andauert. Für die überwältigende Mehrzahl der von der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) vertriebenen Jesid*innen heißt das: Sie müssen auch fast zehn Jahre nach dem Völkermord auf unabsehbare Zeit in irakischen Flüchtlingslagern leben – die 2014/15 einmal zur Nothilfe eingerichtet wurden. »Auch wenn sich die Lage insgesamt in einem Land wie dem Irak stabilisieren mag, muss man regional differenzieren. Für die Jesid*innen bleibt die Zukunftsperspektive im Irak bis auf Weiteres düster«, heißt es in dem Gutachten.

All das hat auch Auswirkungen auf Deutschland, wo mit rund 250.000 Menschen nicht nur die größte jesidische Diaspora in Europa, sondern nach dem Irak die zweitgrößte weltweit existiert. Sie leben vor allem in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen (Celle, Oldenburg und Bielefeld). Geschätzt sind derzeit 5.000 bis 10.000 irakische Jesid*innen ausreisepflichtig und von Abschiebungen in den Irak bedroht. Denn Mitte 2023 begannen die ersten Bundesländer vor dem Hintergrund einer enger werdenden Kooperation mit dem Irak und aufgrund von Gerichtsurteilen, wonach es im Irak keine gruppenspezifische Verfolgung mehr gebe, Jesid*innen in den Irak abzuschieben. Tausende Jesid*innen fürchten nun, dass es ihnen bald ebenso ergeht.

Unverständlich ist das auch, weil der Deutsche Bundestag Anfang 2023 die Verfolgung der Jesid*innen als Völkermord anerkannt und so auch ein besonderes Schutzversprechen geleistet hatte: »Die Diaspora ist Teil unserer Gesellschaft mit all ihren Erfahrungen und Erinnerungen. Der Deutsche Bundestag wird sich mit Nachdruck zum Schutz êzîdischen Lebens in Deutschland und ihrer Menschenrechte weltweit einsetzen«, heißt es in dem Beschluss des Bundestags.

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Das Gegenteil von Verbesserungen:

Das neue Rückführungsgesetz verschlimmert die Lage

Statt den Überlebenden dieses anerkannten Genozids eine Bleibeperspektive zu bieten, werden sie an den Ort des Völkermords zurückgeschickt, an dem sie keine Zukunft haben. Das Bundesinnenministerium sieht derzeit keine Belege für eine systematische Verfolgung von Jesid*innen und damit auch keine Gründe für eine Sonderregelung im Asylrecht.

Doch es ist unverantwortlich, jesidische Männer, Frauen und Kinder in ein Land abzuschieben, in dem sie keine Lebensgrundlage haben und kein sicheres Leben führen können. Abzuschieben in das Land des Völkermords, in dem sie ehemaligen Tätern begegnen und sich ständig bedroht fühlen müssen. Deshalb muss es sofort einen bundesweiten Abschiebestopp für Jesid*innen geben.

Die komplizierte Lage der Jesid*innen und in der Region generell fasst das Gutachten auf den ersten Seiten zusammen:

Religiös verfolgt

Die ideologisch-religiöse Begründung für Diskriminierung und Verfolgung der Jesid*innen basiert darauf, dass sie aus muslimisch-orthodoxer Sicht nicht als Buchreligion gelten und ihnen daher immer wieder die Existenzberechtigung als religiöse Gruppe abgesprochen wurde. Diese grundsätzliche Nichtakzeptanz der jesidischen Religion führte schon im Osmanischen Reich zu Versuchen religiöser Zwangsassimilierung und war die Grundlage einer langen, kontinuierlichen Verfolgungsgeschichte bis hin zum Angriff des IS.

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Das neue Rückführungsgesetz bedient rechten Populismus, löst aber keine Probleme

Sinjar: Im Brennpunkt machtpolitischer Auseinandersetzungen

Das Hauptsiedlungsgebiet der Jesid*innen im irakischen Distrikt um die Stadt und das Bergmassiv Sinjar (Shingal) steht weiterhin im Brennpunkt machtpolitischer und militärischer Auseinandersetzungen solange sich die Situation in der Großregion inklusive Syrien nicht grundlegend ändert. Das Gebiet hat eine zentrale strategische Bedeutung im Konfliktfeld zwischen diversen staatlichen und nichtstaatlichen Akteur*innen in Syrien, im Irak, aber auch in der Türkei und im Iran.

Schwache Autorität des irakischen Staates

Die immer wieder angekündigten Wiederaufbauinvestitionen der irakischen Regierung für den Sinjar scheitern an den ungeklärten Macht- und Verwaltungsfragen sowie letztlich an der mangelnden Souveränität des irakischen Staates. Solange die Region im strategischen Fokus so vieler Akteur*innen steht, wird eine dauerhafte Wiederherstellung staatlich-irakischer Souveränität nicht gelingen. Dies gilt auch für das bis heute nicht umgesetzte Sinjar-Abkommen zwischen der Regierung der kurdischen Autonomiezone und der irakischen Regierung von 2020, wonach unter anderem die irakischen Streitkräfte die Kontrolle in der Region übernehmen und die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und ihre Gruppierungen abziehen sollen. Auch bei der Ankündigung der irakischen Regierung vom Februar 2024, die Unterstützung für die noch bestehenden Lager für intern Vertriebene (Internally Displaced Persons, IDP) im Nordirak einzustellen und dafür Möglichkeiten für eine Rückkehr auch der Jesid*innen in ihre Orte bereitstellen zu wollen, scheint es sich um nicht mehr als eine Absichtserklärung zu handeln.

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Schutzversprechen für Jesid*innen nur hypothetisch

Ein zentraler Denkfehler in der Beurteilung der jesidischen Problematik besteht in dem Fokus auf Aktualität. Auch wenn es derzeit keine organisierte Verfolgung der Jesid*innen gibt: Alle, sowohl die Jesid*innen als Angehörige einer besonders gefährdeten Minderheit als auch die potenziellen Täter*innen, wissen, dass das Schutzversprechen des irakischen Staates ein nur sehr relatives und hypothetisches ist. Das wird auch so bleiben, solange die Zentralregierung, insbesondere in den umstrittenen Gebieten, nur eine schwache Autorität besitzt. Die grausame Folge von nur theoretischen Sicherheitsversprechen haben die Jesid*innen des Sinjar im Jahr 2014 erfahren müssen, als sich die Kämpfer der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP), die das Gebiet kontrollierten, buchstäblich über Nacht zurückzogen und damit die Jesid*innen schutzlos dem IS überließen.

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»Unsicherheit und Angst vor Abschiebung zerstören die Erfolge in Bildung und Integration«

Kein Zurück in die Zeit vor dem Völkermord

Das Schicksal der Jesid*innen ist ein eindrückliches Beispiel für die neue Realität, die ein Völkermord schafft. Es gibt kein Zurück in die Zeit davor. Die Herkunftsregion der Jesid*innen ist ein von Minderheiten und zahlreichen Konfliktlinien geprägtes Gebiet. Die Terrororganisation Islamischer Staat hat mit dem Völkermord dieses ohnehin schon fragile gesellschaftliche Gewebe zerrissen. Traumatisierte Opfer stehen Nachbar*innen gegenüber, die potenzielle Täter*innen waren – und es potenziell jederzeit wieder werden können.

Keine innerirakische Fluchtalternative

Eine reale innerirakische Fluchtalternative gibt es für die Mehrzahl der in Lagern lebenden Jesid*innen nicht. Ihre praktische Erfahrung ist, dass sie sich letztlich nur auf Mitglieder der eigenen Gruppe oder Gemeinschaft verlassen können, daher suchen sie den Rückhalt bei anderen Jesid*innen in ihrem Lebensumfeld. Niemand würde erwarten, dass Jesid*innen irgendwo hinziehen, wo es keine anderen Jesid*innen gibt. Das gilt auch für andere Gruppen oder Minderheiten in der irakischen Gesellschaft.

Sicherheitsgarantien sind Grundvoraussetzung

Das Gutachten zeigt eindrücklich: Es braucht relevante Sicherheitsgarantien, eine jesidische Selbstverwaltung, funktionierende Strafverfolgungsmaßnahmen und Entschädigungsprozesse, eine wie in der irakischen Verfassung vorgesehene Klärung des Status der umstrittenen Gebiete, insbesondere ihrer politischen Zuordnung und eine Demilitarisierung diverser Milizen. Diese Grundvoraussetzungen müssten erst geschaffen werden, bevor über die Zukunft der Jesid*innen im Irak diskutiert werden kann. Alle Informationen in diesem Text stammen aus dem Gutachten »Zehn Jahre nach dem Völkermord: Zur Lage der Jesidinnen und Jesiden im Irak«.

(wr)

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