Schlecht und widersprüchlich: Bescheide des Bundesamts gefährden afghanische Schutzsuchende

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Unsichtbare Wesen

Zur aktuellen Situation von Frauen in Afghanistan

Unter den Taliban finden willkürliche Verhaftungen, Folter, öffentliche Auspeitschungen und außergerichtliche Tötungen statt; die Rechte von Mädchen und Frauen sind massiv eingeschränkt. Hinzu kommen existentielle Bedrohungen wie Hunger, Arbeitslosigkeit und Wasserknappheit, die viele Menschen zwingen, Afghanistan zu verlassen, sodass das Land auf Platz drei der Hauptherkunftsländer steht.

Fast allen, die seit der Machtübernahme der Taliban in Deutschland Schutz ersucht haben, wurde dieser gewährt. Die bereinigte Schutzquote für afghanische Asylsuchende lag 2022 bei 99,4 Prozent und 2023 bei 99 Prozent. Frauen erhalten vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) meistens den Flüchtlingsstatus, 2023 war dies bei 76 Prozent der Frauen der Fall. In den meisten anderen Fälle wird wegen drohender Verelendung ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) festgestellt. Neue Zahlen zeigen nun aber, dass die Schutzquote auf einem langsamen Abwärtstrend ist. Im ersten Quartal 2024 sank sie auf 96,9 Prozent, im zweiten Quartal auf 96,4 Prozent.

PRO ASYL hat 30 negative Entscheidungen aus der Zeit von Mai bis August 2024 gesammelt und analysiert. Sie betreffen allesamt junge männliche Asylsuchende. Die Analyse zeigt: Die Argumentation des BAMF ist lückenhaft und widersprüchlich.

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»Ich wollte schon immer Ärztin werden«

Das BAMF zur Lage in Afghanistan: Lebensbedrohlich

Nicht ohne Grund lag die Anerkennungsquote afghanischer Asylsuchender bis vor Kurzem bei fast 100 Prozent. Interessanterweise liefert das BAMF selbst reichlich Beweise dafür, wie gerechtfertigt dieser Schutz ist: In den 30 von PRO ASYL analysierten Bescheiden benötigt das Bundesamt im Durchschnitt drei Seiten, um die Vielzahl von Berichten zu der menschenrechtlich und humanitär lebensbedrohlichen Lage aufzuführen.

Als weltweit größte humanitäre Krise bezeichnete der stellvertretende UN-Sondergesandte für Afghanistan die Lage im Februar 2023. Das Bundesamt bestätigt, dass sich diese Krise stabilisiert hat. Der Verlust der Einkommensquellen betrifft die gesamte Gesellschaft. Die Chancen, sich ein Existenzminimum auf unterster Stufe zu sichern, sind laut BAMF »auf ein Minimum reduziert«. In Afghanistan droht gravierender Hunger. »In allen Provinzen [sind] 18,9 Millionen Menschen, fast die Hälfte der Bevölkerung, von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen«, stellt das BAMF immer wieder in seinen Bescheiden fest. Rund zwei Drittel der Bevölkerung sind außerdem auf humanitäre Hilfe angewiesen, deren Verteilung häufig durch die Taliban behindert wird.

Die Lage in Afghanistan hat sich seit der Machtübernahme der Taliban also keineswegs verbessert, das sieht das BAMF in seinen Bescheiden sogar selbst so. Was sich aber im Jahr 2024 geändert hat, ist der politische Diskurs: Bund und Länder fordern Abschiebungen nach Afghanistan, und am 30. August 2024 schob Deutschland zum ersten Mal seit der Machtübernahme Menschen nach Afghanistan ab.

Bundesamt widerspricht sich selbst

Für die Prüfung, ob ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt, muss das Bundesamt prüfen, ob die schlechten humanitären Verhältnisse eine Gefahrenlage darstellen, die einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung von Schutzsuchenden im Sinne von Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gleichkommt.

Hiervon ist auszugehen, wenn eine zurückgekehrte Person mit hoher Wahrscheinlichkeit »unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not« geraten würde, in der es ihr nicht gelingen würde, »ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre« (so der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seinen Urteilen »Ibrahim« und »Jawo« vom 19. März 2019, C‑297/17, Rn. 89 ff. und C‑163/17, Rn. 90 ff.).

Jetzt für Geflüchtete spenden!

Angesichts der Lage in Afghanistan sieht das BAMF auch für einen alleinstehenden »leistungsfähigen, erwachsenen Mann« die »hohen Anforderungen« für eine Verletzung von Art. 3 EMRK »regelmäßig« erfüllt. Nur wenn »besondere begünstigende Umstände« vorliegen, wird kein Abschiebeverbot festgestellt. Es wäre daher eine sorgfältige Einzelfallprüfung zu erwarten, bei der die persönlichen Umstände des Asylsuchenden systematisch in Bezug auf diese Rechtsnorm subsumiert werden. Die dieser Analyse zugrunde liegenden Bescheide zeichnen jedoch ein anderes Bild.

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Zahlen & Fakten zur populistischen Debatte

Der Mythos vom »tragfähigen familiären Netzwerk«

»Der Antragsteller verfügt über ein bestehendes und tragfähiges familiäres Netzwerk, das ihn im Falle der Rückkehr unterstützen könnte.« Mit leicht abgeänderten Varianten dieses einfachen Satzes und dazu oftmals nur ein oder zwei kurzen Absätzen verneint das Bundesamt die Möglichkeit, dass ein »junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann« bei seiner Rückkehr nach Afghanistan einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK ausgesetzt wird. Bereits vor der Machtübernahme der Taliban war das »familiäre Netzwerk« das Hauptargument, mit dem ein Abschiebeverbot für junge afghanische Männer abgelehnt wurde. Und nun scheint es wieder zurück zu sein.

In einem Bescheid nennt das Bundesamt als Beispiel für ein solches Netzwerk einen Bruder, der einen Lebensmittelladen betreibt. In einigen anderen Bescheiden verweist das BAMF auf Eltern, die ein Haus besitzen, oder Familie, die Land besitzt. Ob daraus tatsächlich wirtschaftliche Vorteile entstehen, wird jedoch vom Bundesamt nicht verifiziert. Die notwendige Prüfung, ob Verwandte tatsächlich unterstützungsfähig und bereit dazu sind, bleibt also aus.

Eine Bewertung ohne Grundlage

Auch weitere Argumente des BAMF berücksichtigen die Lage in Afghanistan nicht. So kommt das BAMF bei einem Antragsteller zu dem Schluss, dass »die Lage seiner in Afghanistan lebenden Familie durchschnittlich« sei. Wenn jedoch die Hälfte der Bevölkerung in Afghanistan von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen ist, müsste dies logischerweise zur Schlussfolgerung führen, dass sich die Familie selbst in einer Situation befindet, die einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK gleichkommt.

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Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien sind menschenrechtswidrig

Eine Bewertung ohne Grundlage

Auch weitere Argumente des BAMF berücksichtigen die Lage in Afghanistan nicht. So kommt das BAMF bei einem Antragsteller zu dem Schluss, dass »die Lage seiner in Afghanistan lebenden Familie durchschnittlich« sei. Wenn jedoch die Hälfte der Bevölkerung in Afghanistan von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen ist, müsste dies logischerweise zur Schlussfolgerung führen, dass sich die Familie selbst in einer Situation befindet, die einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK gleichkommt.

In einem weiteren Fall schlussfolgert das BAMF aus fünf Jahren Schulbesuch, dass es dem Antragsteller »demzufolge schon grundsätzlich möglich und zumutbar ist, einer Arbeit nachzugehen und selbstständig für seinen Lebensunterhalt zu sorgen«. In einem anderen Fall zieht das BAMF eine noch weitreichendere Schlussfolgerung und behauptet, dass der Umstand, dass ein Bruder des Antragstellers die Schule besucht hat, »auf gute wirtschaftliche Verhältnisse schließen lässt« – obwohl der Schulbesuch kostenlos war. Das BAMF legt auch keine Informationen vor, die bestätigen würden, dass gebildete Verwandte oder der Besuch einer Grundschule  jemandem ermöglichen, seinen Lebensunterhalt in Afghanistan zu sichern.

Entscheider*innen müssen nachfragen

Mehr noch: Wenn es keine verfügbaren qualifizierten Jobs gibt, bringt eine Ausbildung überhaupt keinen Vorteil. Das BAMF untersucht den tatsächlichen Arbeitsmarkt in Afghanistan aber nicht. Allerdings hat das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht vom Juni 2023 klar festgestellt: »Im Zuge der Wirtschaftskrise droht eine Verarmung der urbanen Mittelschicht. Viele Angestellte des öffentlichen Dienstes haben ihre Arbeit verloren. Tätigkeiten, die mit der internationalen Präsenz im Land verbunden waren, sind weggebrochen.« Merkmale wie eine Ausbildung, die jungen, alleinstehenden Männern angeblich »gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt in Afghanistan« verschaffen, sind in Wirklichkeit wertlos.

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Zusammenarbeit mit den Taliban?

Menschen- & Frauenrechte sind nicht verkäuflich!

In einigen der vorliegenden Fälle haben die Antragsteller in der Anhörung ihre wirtschaftliche Situation nicht selbst erwähnt. Das BAMF folgert daraus, dass sie »offensichtlich keine Existenzängste« haben und folglich keinen Anspruch auf ein Abschiebeverbot. Diese Schlussfolgerung ist an sich schon fragwürdig: »Begründete Furcht« ist zwar ein Kriterium für die Flüchtlingseigenschaft aber nicht für ein Abschiebeverbot. Das BAMF ist verpflichtet, die wirtschaftliche Situation selbstständig zu prüfen. Wenn ein Antragsteller davon ausgeht, nur über Konflikte mit den Taliban berichten zu müssen und nicht über seine schlechte wirtschaftliche Lage, hat das BAMF in der Anhörung entsprechende Fragen zu stellen.

PRO ASYL fordert eine gründliche Einzelfallprüfung

Die Lage in Afghanistan ist eindeutig: Die Bedingungen vor Ort stellen für einen Großteil der Menschen gravierende Menschenrechtsverletzungen dar. Das Bundesamt muss daher die Prüfung eines Abschiebeverbots auf der Annahme aufbauen, dass bei einer Abschiebung eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliegt. Sollte es Ausnahmen geben, müssen diese sorgfältig für den Einzelfall begründet werden.

PRO ASYL unterstützt derzeit mehrere afghanische Schutzsuchende dabei, gegen ablehnende Bescheide zu klagen.

(ll)

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