Originalquelle Read More
Die Aufnahme von mehr als vier Millionen Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine hat bewiesen, dass die EU-Staaten in der Lage sind, Geflüchtete in großer Zahl aufzunehmen – »unter weitgehend akzeptablen Bedingungen«. So beginnt das Fazit des Berichts »Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Die Richtlinie zum vorübergehenden Schutz und ihre Umsetzung in Osteuropa«, den der Verein bordermonitoring.eu mit Unterstützung von PRO ASYL zum dritten Jahrestag der EU-weiten Aktivierung des vorübergehenden Schutzes vorgelegt hat. Entscheidend dafür, dass die Aufnahme weitgehend geräuschlos und ohne größere Probleme stattgefunden hat, ist die Tatsache, dass die EU-Staaten sehr schnell unbürokratische Regelungen beschlossen haben, die die Interessen der Geflüchteten berücksichtigen.
EU aktiviert Richtline wenige Tage nach dem russischen Überfall
Am 4. März 2022 – nur acht Tage nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine – aktivierten die EU-Mitgliedstaaten die Richtlinie zum vorübergehenden Schutz. Dadurch gelang es, Millionen von Flüchtlingen schnell und unkompliziert aufzunehmen, heißt es in dem Bericht weiter: keine langwierigen Asylverfahren, schneller Zugang zu Arbeitsmärkten und Wohnungen und vor allem Freizügigkeit, mit der die Betroffenen selbst entscheiden konnten, »in welchem Land eine Integration aufgrund ihrer individuellen Voraussetzungen und oftmals bereits vorhandener sozialer Netzwerke am erfolgversprechendsten ist«.
Eine Einschränkung gab es aber leider doch: Viele Drittstaatsangehörige wie Geflüchtete oder ausländische Studierende wurden vom vorübergehenden Schutz ausgeschlossen. Möglich wurde das, weil es den EU-Staaten freigestellt wurde, wie sie mit Menschen umgehen, die zwar bei Kriegsbeginn in der Ukraine lebten, aber keine ukrainische Staatsangehörigkeit besitzen. Diese offene Formulierung sorgte in der Umsetzung für Schutzlücken. So ist zum Beispiel Ungarn besonders restriktiv. Dort können Drittstaatsangehörige nur vorübergehenden Schutz erhalten, wenn sie Familienangehörige von ukrainischen Staatsangehörigen sind oder in der Ukraine als Flüchtlinge anerkannt waren.
»Die Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine zeigt, dass ein solidarisches und aufnahmebereites Europa, das sein politisches Handeln an den Interessen der Menschen auf der Flucht ausrichtet, durchaus im Bereich des Möglichen liegt.«
Dennoch gilt generell: Gerade auch angesichts der nationalen und europäischen Debatten, in denen das Recht auf Schutz immer offensiver in Frage gestellt wird, zeigt die Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine, »dass ein solidarisches und aufnahmebereites Europa, das sein politisches Handeln an den Interessen der Menschen auf der Flucht ausrichtet, durchaus im Bereich des Möglichen liegt«.
21 Jahre, bis vorübergehender Schutz zum ersten Mal angewendet wird
Die Richtlinie zum vorrübergehenden Schutz, die (etwas abwertend) immer wieder Massenzustrom-Richtlinie genannt wird, heißt komplett »Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten«. Beschlossen Mitte 2001 unter dem Eindruck der Jugoslawienkriege, dauerte es dennoch 21 Jahre, bis die EU-Staaten sie das erste Mal anwendeten. Weder die Entwicklungen in Libyen (2011), Tunesien (2011), der Ukraine (2014) und in Syrien (ab 2011) noch die Tatsache, dass im Jahr 2015 mehr als eine Million Flüchtlinge nach Europa kamen, führten zuvor zur Aktivierung.
Recherchereisen in sieben osteuropäische Staaten
Im Mittelpunkt des Berichts stehen sechs osteuropäische EU-Staaten, die Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen haben: Polen, Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Tschechien. Sie haben zusammen 40 Prozent der rund 4,3 Millionen Flüchtlinge mit vorübergehendem Schutz (Stand Ende 2024) aufgenommen, obwohl sie nur 20 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU ausmachen. Hinzu kommt das Nicht-EU-Land Moldau, in dem etwa 65.000 Menschen einen an die Richtlinie zum vorübergehenden Schutz angelehnten temporären Schutzstatus bekamen.
Elfmal reiste der Autor Marc Speer vom Verein bordermonitoring.eu in die osteuropäischen Länder, um die Aufnahme der Flüchtlinge aus der Ukraine zu beobachten und zu dokumentieren. Kombiniert mit umfangreichem Datenmaterial und Quellenstudien gibt der 90 Seiten lange Bericht einen Überblick über die Richtlinie samt ihrer Geschichte sowie zu wichtigen Aufnahme-Themen: die jeweilige politische Situation, die Ein- und Weiterreise, das Verfahren der Aufenthaltsgewährung sowie Unterbringung, Sozialleistungen, Arbeitsmarkt, Schulbildung und Gesundheitsversorgung. Ermöglicht wurde das von Mai 2022 bis September 2023 laufende Projekt mit weitreichender Unterstützung von PRO ASYL.
Unterbringung auch jenseits von Sammelunterkünften
So ist es zum Beispiel in den untersuchten Staaten »relativ gut gelungen«, eine Unterbringung jenseits von Sammelunterkünften zu ermöglichen. Aus zwei wesentlichen Gründen: Es gab eine große Bereitschaft in der Bevölkerung, einschließlich der bereits im Fluchtland wohnenden ukrainischen Community, Flüchtlinge privat aufzunehmen – und diese Bereitschaft wurde finanziell gefördert. Zudem ermöglichte die hohe Aufnahmefähigkeit der nationalen Arbeitsmärkte es vielen Ukrainer*innen, relativ schnell Geld zu verdienen und so eine eigene Wohnung zu mieten.
Obwohl die betrachteten osteuropäischen Staaten nicht als flüchtlingsfreundlich gelten, gab es gegenüber den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine sowohl eine private Welle der Hilfsbereitschaft als auch große politische Solidarität.
Problematisch dabei war aber laut Bericht, dass tendenziell niedrige Löhne auf hohe Mieten treffen und besonders in Ballungsräumen die Situation auf den bereits vor Kriegsbeginn oft angespannten Mietmärkten weiter verschärft wurde. Kritisch ist auch, dass fast alle untersuchten Staaten die kostenlose Unterbringung in Sammelunterkünften beschränkten. So sind, heißt es im Bericht weiter, besonders vulnerable oder diskriminierte Gruppen wie Rom*nja, denen es nur schwer gelingt, auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt Fuß zu fassen, zunehmend von Obdachlosigkeit bedroht.
Große Hilfsbereitschaft für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine
Obwohl die betrachteten osteuropäischen Staaten nicht als flüchtlingsfreundlich gelten, gab es gegenüber den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine sowohl eine private Welle der Hilfsbereitschaft als auch große politische Solidarität, besonders in Polen und Tschechien. Das wurde schon bei der Einreise deutlich und setzte sich bei der pragmatischen Erteilung von Aufenthaltstiteln fort. Dies wäre auch für Deutschland wünschenswert gewesen, heißt es weiter, »wo ukrainische Geflüchtete oft viele Monate warten mussten, bis ihnen […] ein Aufenthaltstitel erteilt wurde«.
Bemerkenswert ist auch die hohe Beschäftigungsquote insbesondere in Polen und Tschechien. Dabei spielte neben der sprachlichen Nähe vor allem die Existenz ukrainischer Communities eine wichtige Rolle. Sie konnte Kontakte vermitteln, zudem waren Arbeitgeber*innen bereits mit ukrainischen Arbeitskräften vertraut. Doch es gab und gibt auch problematische Aspekte: Viele Ukrainer*innen arbeiten trotz guter Ausbildung im Niedriglohnsektor, und nicht alle aus der Ukraine geflohenen Kinder besuchen eine örtliche Schule.
Wie sollte es weitergehen?
Drängender wird auch die Frage, wie es für die Flüchtlinge aus der Ukraine weitergehen soll. Der Rat der EU hat den vorübergehenden Schutz zwar bis zum 4. März 2026 verlängert – doch es stellt sich angesichts der Länge des Krieges auch die Frage, ob und wie der vorübergehende Schutz in dauerhafte Lösungen umgewandelt werden kann. So hat Polen zum Beispiel im Sommer 2024 die gesetzlichen Voraussetzungen für einen leichten Übergang vom vorübergehenden Schutz in eine dreijährige Aufenthaltserlaubnis geschaffen.
Möglich wäre aber auch eine europäische Lösung. Wichtig dabei sei aber, so der Bericht, dass ein längerfristiger Aufenthaltstitel nicht zwingend von der eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts abhängig gemacht wird. Dies würde gerade besonders schutzbedürftige Personen ausschließen.
Der Bericht »Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Die Richtlinie zum vorübergehenden Schutz und ihre Umsetzung in Osteuropa« kann hier abgerufen werden.
PRO ASYL hat in den vergangenen Jahren Texte zu den Recherchereisen zum Umgang mit den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine veröffentlicht: Slowakei, Moldau, Ungarn, Rumänien, Polen, Tschechien.
(wr)
The post Weitgehend gelungene Aufnahme: Vorübergehender Schutz für ukrainische Flüchtlinge in Osteuropa first appeared on PRO ASYL.