Neues Urteil: Syrische Kriegsdienstverweigerer haben doch Anspruch auf Asylfolgeverfahren

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Als der syrische Bürgerkrieg 2011 ausbrach, bedeutete der obligatorische Militärdienst für Männer im Alter von 18 bis 42 Jahren, dass ein großer Teil der syrischen Bevölkerung gezwungen war, für das Assad-Regime zu kämpfen. Das syrische nationale Recht sieht weder die Möglichkeit zur legalen Kriegsdienstverweigerung noch einen alternativen Dienst vor, und jede Verweigerung des Militärdienstes wird mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft. Deshalb flohen viele junge syrische Männer vor der Einberufung und beantragten aufgrund von politischer Verfolgung Asyl in Deutschland.

Ob dieser Gruppe der Flüchtlingsstatus zuzuerkennen ist, hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs uneinheitlich beurteilt. Ein kürzlich im Februar 2024 ergangenes Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) bestätigt nun, dass europäische Gerichtsurteile das Recht auf eine Überprüfung des Flüchtlingsstatus garantieren.

Das Urteil des europäischen Gerichts bedeutet allerdings nichts, dass nun alle syrischen Kriegsdienstverweigerer in Deutschland den Flüchtlingsstatus bekommen: Das BAMF sieht seit ein paar Jahren keine Verfolgungsgefahr mehr für syrische Wehrdienstverweigerer und wird Asylfolgeanträge aus dieser Gruppe daher nun zwar zulassen, vermutlich aber trotzdem keinen Flüchtlingsstatus zuerkennen. Das EuGH-Urteil nutzt den Männern aus Syrien nun also nichts mehr.

NEWS (2020)

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Erfolg vor dem Europäischen Gerichtshof

Entscheidung zu syrischen Kriegsdienstverweigerern

Hintergrund des neuen EuGH-Urteils

Bis 2016 gewährte das BAMF für die Gruppe von jungen syrischen Männern durchaus Flüchtlingsstatus. Es erkannte an, dass die einberufenen Wehrpflichtigen innerhalb der syrischen Armee einem Risiko ausgesetzt waren, bei Verweigerung des Dienstes wegen ihrer politischen Überzeugung verfolgt zu werden. Doch 2016 änderte sich diese BAMF-Entscheidungspraxis: Von da an erhielten Kriegsdienstverweigerer nur noch subsidiären Schutz. Dies fiel mit den starken Einschränkungen bei der Familienzusammenführung für subsidiär Geschützte zusammen: Für sie war der Familiennachzug von 2016 bis 2018 komplett ausgesetzt und wurde dann auf 1.000 Menschen pro Monat beschränkt.

Viele der Antragsteller klagten gegen diese Entscheidungen. Es folgte eine Serie von unterschiedlichen Gerichtsentscheidungen, in denen unterschiedliche Argumente verwendet wurden, die den subsidiären Schutz mal bestätigten und mal aufhoben und den Klagenden den Flüchtlingsstatus gaben.

Im November 2020 schien die Verwirrung durch den EuGH beseitigt zu werden: Der entschied, dass es bei syrischen Kriegsdienstverweigerern eine »starke Vermutung« gebe, dass sie politisch verfolgt seien und daher Flüchtlingsschutz erhalten sollten. Der Gerichtshof entschied, dass syrische Kriegsdienstverweigerer einem Risiko ausgesetzt waren, (indirekt) Kriegsverbrechen zu begehen, was gemäß Artikel 9 Abs. 2 lit. e der Europäischen Qualifikationsrichtlinie eine Verfolgungshandlung darstellt. Tatsächlich gab es Medienberichte, wonach die Einheiten der syrischen Armee wiederholt und systematisch Kriegsverbrechen verübten.

BAMF bewertete falsch

Nach dem EuGH Urteil von 2020 stellten viele Männer, die in Syrien den Kriegsdienst verweigert hatten, sogenannte Asylfolgeanträge in der Hoffnung, das BAMF würde nun ihren Fall neu bewerten, weil das neue Urteil einen »neuen Umstand« darstelle. Doch das BAMF wies auch die Folgeanträge ab und begründete dies damit, „dass Vorabentscheidungen des EuGH nicht konstitutiver, sondern stets rein deklaratorischer Natur sind“. Dies bedeutet laut BAMF, dass das Urteil des EuGH keinen »neuen Umstand« im Sinne der Asylverfahrensrichtlinie (Art. 33 Abs. 2 lit. D) beziehungsweise keine »Änderung der Rechtslage« darstellt, die die Durchführung eines Folgeverfahrens erlauben würde (vergleiche § 71 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) in Verbindung mit § 51 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG).

Vielen syrischen Kriegsdienstverweigerern wurde in Deutschland über Jahre hinweg Unrecht getan.

Mit dem neuen EuGH-Urteil vom 8. Februar 2024 erweist sich diese Bewertung nun als falsch. Es ist das neueste Urteil in einer Reihe von Entscheidungen aus Luxemburg, die zusammen betrachtet ein bedenkliches Bild zeichnen: Vielen syrischen Kriegsdienstverweigerern wurde in Deutschland über Jahre hinweg Unrecht getan.

HINWEISE (2020)

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Folgeanträge von syrischen Kriegsdienstverweigerern

nach der EuGH-Entscheidung

EuGH-Urteile stellen eine »Änderung der Rechtslage« dar

Dem Kläger des Ausgangsverfahrens für das Urteil vom Februar 2024, ein syrischer Kriegsdienstverweigerer, wurde im Jahr 2017 auf seinen ersten Asylantrag in Deutschland hin die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verweigert. Er erhielt – wie viele andere in seiner Situation – lediglich subsidiären Schutz. Die Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wurde bestandskräftig.

Nach dem erwähnten EuGH-Urteil von 2020 stellte er einen Asylfolgeantrag. Dabei argumentierte er, dass die Entscheidung des EuGH vom 19. November 2020 einen »neuen Umstand« im Sinne der Asylverfahrensrichtlinie (Art. 33 Abs. 2 lit. d) darstelle, bei dem die Stellung eines Folgeantrags nach Unionsrecht zulässig sei. Damit liege zugleich eine »Änderung der Rechtslage« vor, die für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nach deutscher Rechtslage erforderlich ist (vergleiche § 71 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) in Verbindung mit § 51 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG). Auch PRO ASYL hatte bereits damals diesen Standpunkt eingenommen und einen Musterschriftsatz für Betroffene erstellt.

Jedes Urteil kann eine neue Prüfung bewirken

Das BAMF folgte dieser Auffassung nicht und lehnte ein weiteres Asylverfahren mit der Begründung ab, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Urteile keine »Änderung der Rechtslage« darstellten – mit Ausnahme von Urteilen des Bundesverfassungsgerichts, die nach § 31 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) Bindungswirkung entfalten. Hierauf erhob der Betroffene Klage. Das zuständige Verwaltungsgericht Sigmaringen setzte das Verfahren aus, um den EuGH um die Klärung der unionsrechtlichen Frage zu ersuchen, was dieser nun mit dem Urteil vom 8. Februar getan hat.

Der EuGH hat darin entschieden, dass »neue Umstände oder Erkenntnisse« nicht nur auf eine Änderung der Sachlage hinsichtlich der persönlichen Situation eines Antragstellers oder der seines Herkunftslands abzielt, sondern auch auf neue rechtliche Umstände. Laut Gerichtshof folgt daraus, dass grundsätzlich jedes Urteil des Gerichtshofs einen neuen Umstand darstellen kann, der eine erneute vollständige Prüfung, ob die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfüllt sind, rechtfertigen kann. Dies gilt auch für ein Urteil, das sich auf die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts beschränkt, die bei Erlass einer Entscheidung über einen früheren Antrag bereits in Kraft war. Das Verkündungsdatum des Urteils ist irrelevant.

Ein Urteil des Gerichtshofs stellt allerdings nur dann, schreibt der Gerichtshof, einen neuen Umstand dar, der eine erneute vollständige Prüfung rechtfertigt, wenn es erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beiträgt, dass der Antragsteller als Person mit Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft anzuerkennen ist.

Der EuGH erklärt daher eindeutig, dass jede Person Anspruch auf eine Entscheidung hat, die mit dem EU-Recht im Einklang steht.

Effektive Anwendung des Unionsrechts

Der EuGH erklärt seine Schlussfolgerung damit, dass Schutzsuchenden ermöglicht werden solle, dass das Unionsrecht eine effektive Anwendung auf ihre Anträge finde. Anders gesagt: Nur wenn Entscheidungen des EuGH als »neuer Umstand« betrachtet werden, haben Schutzsuchende eine zweite Chance, dass das BAMF seine ursprüngliche, falsche Auslegung des EU-Rechts aus dem ersten Bescheid zu ihren Gunsten korrigiert. Darüber hinaus könne das Außerachtlassen von EuGH-Entscheidungen für die Zulässigkeit eines Asylfolgeantrags laut Gerichtshof zur Folge haben, »dass sich die fehlerhafte Anwendung des Unionsrechts bei jedem neuen Antrag auf internationalen Schutz wiederholen könnte«. (Rn. 39)

Der EuGH erklärt daher eindeutig, dass jede Person Anspruch auf eine Entscheidung hat, die mit dem EU-Recht im Einklang steht. Auf dieser Grundlage ist das BAMF verpflichtet, nach einem EuGH-Urteil, das relevantes EU-Asylrecht klärt, Folgeanträge für zulässig zu erklären. PRO ASYL sieht hier eine klare Aufgabe für das BAMF: Es muss in Zukunft viel aufmerksamer auf unionsrechtliche Auslegungen des EuGH achten.

Bedeutung für die Praxis: Beratung wichtig

In der Praxis bedeutet dies, dass syrische Kriegsdienstverweigerer nun endlich die Möglichkeit haben werden, ihre Asylfolgeanträge vom BAMF inhaltlich prüfen zu lassen. Leider können sie jedoch auf zusätzliche Hürden stoßen. Jede neue Entscheidung des BAMF wird auf der aktuellen Situation in Syrien basieren.

Deshalb ist leider zu befürchten, dass das BAMF zwar über den Asylfolgeantrag der Kriegsdienstverweigerer entscheiden wird – diesen aber wegen der angeblich geänderten Faktenlage keine Flüchtlingseigenschaft zuerkennen wird. Betroffene sollten sich fachkundig beraten lassen, ob ein Folgeantrag in ihrem Fall Erfolg versprechend und zielführend ist.

BAMF sollte positiver Rechtsprechung folgen

Das sehen einige Oberverwaltungsgerichte anders: Sie halten die Lage für Kriegsdienstverweigerer in Syrien auch heute noch für gefährlich. Nach dem EuGH-Urteil von 2020, in dem der EuGH feststellte, dass eine »starke Vermutung« bestehe, dass syrische Kriegsdienstverweigerer Flüchtlingsstatus erhalten sollten, entschied das OVG Brandenburg in einem Urteil vom 29. Januar 2021 zugunsten des Flüchtlingsstatus. Der Gerichtshof stellte fest, es bestehe »eine – ausreichende – Vermutung, dass die Bestrafung von Wehrdienstentziehern (auch) aus politischen Gründen erfolgte, weil sie als vermeintliche politische Gegner des Regimes diszipliniert werden sollten«. (Rn. 72)

Auch das OVG Bremen entschied im März 2022, dass ein syrischer Kriegsdienstverweigerer Anspruch auf Flüchtlingsstatus hat. PRO ASYL fordert das BAMF auf, der positiven Rechtsprechung einiger Oberverwaltungsgerichte zugunsten syrischer Kriegsdienstverweigerer zu folgen.

Das Urteil hat über die Fälle der syrischen Kriegsdienstverweigerer hinaus Bedeutung, auch andere Schutzsuchende können sich künftig darauf berufen.

Bedeutung für Asylfolgeanträge anderer Schutzsuchender

Das Urteil hat über die Fälle der syrischen Kriegsdienstverweigerer hinaus Bedeutung, auch andere Schutzsuchende können sich künftig darauf berufen. Wenn nach rechtskräftiger Ablehnung von Asylerstanträgen EuGH-Urteile ergehen, die mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zur Zuerkennung internationalen Schutzes geführt hätten, dann muss ein Asylfolgeantrag nun zugelassen werden. Damit hat der EuGH die Rechtsposition von schutzsuchenden Menschen in der EU gestärkt.

 (ll)

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