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Bei der Flucht nach Europa haben sich die Fluchtrouten verlagert: Während in Italien im Vergleich zum Vorjahr weniger Menschen ankommen, haben die Ankünfte in Griechenland und Spanien zugenommen – auf den Kanarischen Inseln sogar um 154 Prozent. Zudem ist die Zahl der Schutzsuchenden, die über das Meer nach Italien kommen, von 2023 auf 2024 um rund 60 Prozent gesunken. Laut UNHCR starben bisher im Jahr 2024 mindestens 2368 Menschen im gesamten Mittelmeer, die Dunkelziffer dürfte sehr viel höher sein.
Mehr Abfangaktionen: Mehr Gewalt, weniger Ankünfte
Flucht und Migration sind äußerst komplexe Phänomene, die von vielen Faktoren beeinflusst werden. Doch die postfaschistische italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni präsentiert den Rückgang der Ankünfte in Italien als Erfolg ihrer schmutzigen Deal-Politik mit Tunesien und Libyen.
Tatsächlich haben die gewaltvollen Abfangaktionen auf See in den letzten Jahren zugenommen: Nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) wurde etwa die Hälfte der Menschen, die in den ersten fünf Monaten 2024 die Überfahrt auf der Zentralen Mittelmeerroute wagten, von der sogenannten libyschen oder tunesischen Küstenwache zurückgeschleppt. In Tunesien werden Schutzsuchende zudem vielfach bereits daran gehindert, überhaupt in ein Boot zu steigen.
Ohne massive Gewalt funktioniert die europäische Abschottungspolitik nicht.
Ohne massive Gewalt funktioniert die europäische Abschottungspolitik nicht. Um sich nicht selbst die Hände schmutzig zu machen, unterstützt die EU sowohl die sogenannte libysche als auch die tunesische Küstenwache finanziell. Menschenrechte spielen dabei keine Rolle: In Libyen werden Schutzsuchende in Folterzentren interniert, misshandelt und versklavt, während sie in Tunesien von tunesischen Sicherheitskräften misshandelt und systematisch ohne Wasser und Nahrung in der Wüste ausgesetzt werden. Die tunesischen Sicherheitskräfte werden unter anderem von deutschen Steuergeldern finanziert, ausgerüstet und durch die deutsche Bundespolizei ausgebildet. Trotz offensichtlicher Menschenrechtsverletzungen zieht die Bundesregierung keine Konsequenzen.
Für ein würdevolles Ankommen an der südlichen EU-Außengrenze
Die meisten Schutzsuchenden, die die lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer überleben, gehen auf der italienischen Insel Lampedusa von Bord. Die PRO ASYL-Partnerorganisation Maldusa beobachtet und begleitet die Ankünfte der Menschen vor Ort. Gemeinsam mit weiteren Gruppen aus der Zivilgesellschaft wie Mediterranean Hope heißen sie die Überlebenden nach einer oftmals tagelangen und traumatischen Überfahrt im Hafen von Lampedusa willkommen; sie verteilen heißen Tee, Rettungsdecken oder Schuhe an die meist unterkühlten und erschöpften Menschen. Außer ihnen sind Vertreter*innen verschiedener Behörden vor Ort, darunter Frontex und die Polizei.
»Wir stellen den Ankommenden Internet zur Verfügung, damit sie ihre Liebsten informieren können, dass sie noch am Leben sind«, erklärt eine Maldusa-Mitarbeiterin. »Und wir informieren die Menschen in aller Kürze über die Rechte von Asylsuchenden und darüber, welche Verfahrensschritte sie in Italien erwarten.« Beides ist zentral, denn die Menschen werden meistens 30 Minuten nach ihrer Ankunft in den abgelegenen, hochmilitarisierten Hotspot in der Mitte der Insel gebracht.
Hotspots dienen dazu, Schutzsuchende festzusetzen, zu registrieren und einem Screening zu unterziehen, bevor sie in Folgeverfahren überführt werden; oft sind die Unterbringungsbedingungen sehr schlecht. Im Lampedusa Hotspot sind Schutzsuchende faktisch inhaftiert, und sie können kaum zivilgesellschaftliche Organisationen kontaktieren und Informationen erhalten.
Maldusa beschreibt den Favaloro-Pier im Hafen von Lampedusa als einen »feindlichen Ort«, die Bedingungen seien »inhuman und unzureichend«. Der schlechte Zustand des Piers sei ebenso eine »politische Entscheidung« wie die Tatsache, dass die italienischen Behörden medizinisch, logistisch und praktisch oftmals nicht ausreichend auf die Ankunft von Überlebenden und Toten vorbereitet seien.
»Ein Sanitäter sagte zu mir: ›Wir müssen dafür sorgen, dass sie bei Bewusstsein bleiben, die Körper schütteln, versuchen, Wärme zu erzeugen und darauf achten, dass ihre Augen offenbleiben.‹ «
Die katastrophalen Auswirkungen dieses bewussten Missmanagements schildert eine Maldusa-Kollegin eindrücklich in ihrer Beschreibung einer furchtbaren Nacht im April 2024.
»Es herrschte Chaos, Überforderung; Mitarbeitende von Behörden standen wie gelähmt vor dieser fürchterlichen Situation, während einige Personen versuchten, etwas zu tun. Ich näherte mich einem Haufen Decken, die Gesichter der Menschen waren kaum zu erkennen. Viele von ihnen lagen dort auf dem Boden, sich selbst überlassen. Ein Sanitäter sagte zu mir: ›Wir müssen dafür sorgen, dass sie bei Bewusstsein bleiben, die Körper schütteln, versuchen, Wärme zu erzeugen und darauf achten, dass ihre Augen offenbleiben.‹ Die Zeit stand still, der emotionale Teil meines Gehirns hörte auf zu funktionieren, und der praktische Teil übernahm die Führung.«
Maldusa kritisiert zudem, dass Frontex-Beamt*innen die Ankommenden direkt bei der Ankunft am Pier befragen, ohne Rücksicht auf den Zustand der Überlebenden, die meist orientierungslos seien und nicht um ihre Rechte wüssten. Auf diese Weise wollen sie »Schmuggler« ausfindig machen. Auch in Italien gehört die Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht zum Abschreckungsrepertoire, wie die zivilgesellschaftlichen Organisationen borderline-europe und ARCI Porco Rosso seit Jahren dokumentieren.
Hotspot-System: Isolation, Mangel an Informationen, Hygieneprobleme
Schutzsuchende werden auf der italienischen Insel systematisch von der lokalen Bevölkerung und von Tourist*innen getrennt und isoliert. Im Hotspot Lampedusa werden sie faktisch inhaftiert. »Der einzige Ort, an dem Migranten und Einheimische zusammenzuleben scheinen, ist der Friedhof«, so eine Mitarbeiterin der Initiative Mediterranean Hope, die vor Ort Grabmäler von Ertrunkenen pflegt.
Bei Besuchen des Hotspots auf Lampedusa haben Anwält*innen der juristischen Vereinigung Association for Juridical Studies on Immigration (ASGI) in den vergangenen Jahren (zuletzt 2023) immer wieder Rechtsverstöße und sehr schlechte Unterbringungsbedingungen festgestellt: Dazu gehören gravierende Überbelegung, schwerwiegende Gesundheits- und Hygieneprobleme und ein Mangel an Nahrung und Zugang zu Informationen. Seit Juni 2023 wird der Hotspot vom Italienischen Roten Kreuz verwaltet. Laut Maldusa gab es seitdem kleine Verbesserungen bei der Ausstattung der Anstalt, die faktische Haftsituation und die Abschottung der Asylsuchenden seien aber weiterhin ein großes Problem.
Beschleunigte Transfers nach Sizilien, dort oft Haft
In der Vergangenheit mussten Asylsuchende in der Regel wochenlang im Hotspot auf Lampedusa bleiben. Im September 2023, als innerhalb einer Woche fast 15.000 Schutzsuchende Lampedusa erreichten, brach das Hotspot-System zusammen und Asylsuchende konnten sich frei auf der Insel bewegen. Als Reaktion darauf wurden die Abläufe auf der Insel und die Transfers nach Sizilien beschleunigt. Inzwischen gibt das Rote Kreuz eine durchschnittliche Aufenthaltsdauer im Hotspot auf Lampedusa von zwei Tagen an.
Die Zahl der Geflüchteten, die Italien 2024 über die Zentrale Mittelmeerroute erreicht haben, hat Stand November im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 60 Prozent abgenommen. Bis Mitte November 2024 erreichten rund 65.000 Menschen Italien über das Meer, während es im gesamten Jahr 2023 158.000 Schutzsuchende waren. Zur Einordnung: Die Ankunftszahlen waren 2023 im Vergleich zu den Vorjahren außergewöhnlich hoch. Während Tunesien im Jahr 2023 Hauptabfahrtsort war, war es 2024 wieder Libyen. Die meisten Schutzsuchenden kamen im Jahr 2024 unter anderem aus Bangladesch, Syrien, Tunesien, Ägypten und Guinea.
Beschleunigte Transfers waren von der Zivilgesellschaft lange gefordert worden – auch, um eine Überbelegung des Hotspots zu verringern und das oft medial verbreitete Bild einer »Notlage« oder gar verschwörungsideologischen Narrativen einer »Invasion« zu widerlegen. Auch politisch wird Lampedusa immer wieder als Symbol einer vermeintlichen Migrationskrise missbraucht. Durch eine dramatisierende Darstellung der Situation auf der Insel soll der Eindruck erweckt werden, dass Italien und die EU durch die Ankunft von Schutzsuchenden überfordert seien – denn so kann Meloni, deren Politik auf dem Schüren von Ängsten und Ressentiments aufbaut, ihre flüchtlingsfeindlichen Politiken rechtfertigen und sich als tatkräftig inszenieren.
Die Beschleunigung der Transfers hat jedoch auch den Nachteil, dass weniger Zeit bleibt, Schutzsuchende mit Informationen über Verfahren und ihre Rechte zu versorgen. Deshalb bleiben die Mitarbeiter*innen von Maldusa in Kontakt mit Asylsuchenden, die Lampedusa verlassen haben. Sie vermitteln ihnen Anwält*innen, wenn sie später in Sizilien oder anderswo in Italien in geschlossenen Lagern isoliert sind und rechtliche Unterstützung brauchen, etwa in Haftfragen oder in ihrem Asylverfahren. Zudem würden italienische Behörden regelmäßig versuchen, Geflüchtete als »Schmuggler« zu kriminalisieren, auch hier brauche es rechtliche Vertretung, berichtet eine Mitarbeiterin.
Mehr Haft: Sizilien als Testgebiet für die GEAS-Reform
Sizilien ist als südliche EU-Außengrenze ein Testgebiet für die Umsetzung der neuen europäischen Asylpolitik. Denn die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) zielt darauf ab, Hafteinrichtungen und Schnellverfahren an den Außengrenzen zur Norm zu machen. Maldusa führt deshalb gemeinsam mit borderline-europe auf Sizilien ein Projekt durch, um den Bau weiterer geschlossener Lager in Sizilien kritisch zu beobachten. Dieses Monitoring-Projekt wird vor allem durch finanzielle Mittel von zwei deutschen Landeskirchen (Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, EKHN, und Evangelische Kirche im Rheinland, EKiR) sowie LeaveNoOneBehind finanziert.
2023 und 2024 wurden unter anderem ein neues geschlossenes Flüchtlingslager in Modica-Pozzallo und ein neuer Hotspot in Porto Empedocle eröffnet, weitere Zentren sind in Planung. Hier testet die postfaschistische Regierung beschleunigte Grenzverfahren unter Haftbedingungen für Menschen aus Ländern, die in Italien als sogenannte sichere Herkunftsstaaten eingestuft sind, etwa Tunesien, Ägypten oder Algerien. Schutzsuchenden aus diesen Ländern wird pauschal unterstellt, aus »instrumentellen Gründen« einen Asylantrag zu stellen und nicht, weil sie Schutz brauchen. Die beschleunigten Grenzverfahren sollen maximal vier Wochen dauern; nur gegen eine Kaution von mehreren Tausend Euro kann man sich »freikaufen«.
Haftanordnungen sind rechtswidrig
Doch in der Praxis scheitern die Verfahren: Bisher lehnten sizilianische Gerichte die Haftanordnungen bis auf wenige Ausnahmen ab: Nach den bis Oktober 2024 vorliegenden Daten haben Richter*innen in Palermo in 94 Prozent der Fälle und Richter*innen in Catania in 100 Prozent der Fälle die von den Polizeibehörden in Agrigento und Ragusa beantragten Ingewahrsamnahmen nicht bestätigt, unter anderem mit der Begründung, dass eine kollektive Inhaftnahme ohne Einzelfallprüfung rechtswidrig sei.
Die Grenzverfahren in Sizilien sind auch ein Testlauf für die Zentren in Albanien, in denen unter italienischer Gerichtsbarkeit extraterritoriale Schnellverfahren eingesetzt werden sollen. Zweimal hat Meloni bisher Menschen aus Bangladesch und Ägypten von offener See direkt nach Albanien bringen lassen – in beiden Fällen haben italienische Gerichte sich geweigert, die Haftanordnungen der Betroffenen zu bestätigen, sodass die Personen nach Italien gebracht werden mussten.
Justiz unter Druck: Politiker*innen diffamieren Richter*innen
Für diese Entscheidungen, sowohl mit Blick auf Sizilien als auch auf Albanien, wurden Richter*innen öffentlich und persönlich angegriffen und von italienischen Politiker*innen diffamiert – ein höchst besorgniserregender Verstoß gegen die Gewaltenteilung, der die Unabhängigkeit der Justiz gefährdet.
In Sizilien und anderen Gebieten Italiens werden weitere Haftzentren für Asylsuchende entstehen. Es ist wichtig, genau hinzuschauen, wie sich die Situation mit Blick auf die Umsetzung der GEAS-Reform entwickeln wird.
In Sizilien und anderen Gebieten Italiens werden weitere Haftzentren für Asylsuchende entstehen. Es ist wichtig, genau hinzuschauen, wie sich die Situation mit Blick auf die Umsetzung der GEAS-Reform entwickeln wird. Die Präsenz der Maldusa-Kolleg*innen auf Lampedusa und in Sizilien ist zentral, um Asylsuchende an der südlichen EU-Außengrenze beim Zugang zu ihrem Recht auf faire und rechtsstaatliche Asylverfahren zu unterstützen, den Ausbau des bereits existierenden Lagerkomplexes kritisch zu begleiten und solidarische Strukturen vor Ort zu stärken.
(hk)
Über Maldusa
Das Projekt Maldusa setzt sich aus zwei Stationen in Palermo und auf Lampedusa zusammen, in denen sich Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und Herkünften begegnen können: Der Fokus der Maldusa-Station auf Lampedusa liegt auf der Dokumentation von Ankünften, der praktischen Unterstützung von Schutzsuchenden und kritischer Öffentlichkeitsarbeit.
Das soziale Zentrum in Palermo ist ein Begegnungsort für Menschen mit und ohne Fluchtgeschichte, für lokale Akteure, Neu-Ankommende und Besucher*innen. Hier gibt es zahlreiche Veranstaltungen und Treffen. Im Mittelpunkt steht die Baye Fall Community, eine Selbstorganisation von Geflüchteten aus Senegal und Gambia.
Maldusa ist auch auf See aktiv: Mit einem Schnellboot werden Schutzsuchende bei ihrer Ankunft auf Lampedusa begleitet und unterstützt.
Seit September 2024 beobachtet und dokumentiert Maldusa gemeinsam mit borderline-europe in ganz Sizilien den Ausbau des Haft-Systems und die anstehende Umsetzung der GEAS-Reform. Dieses Monitoring-Projekt wird vor allem durch finanzielle Mittel von zwei deutschen Landeskirchen (Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, EKHN, und Evangelische Kirche im Rheinland, EKiR) sowie LeaveNoOneBehind finanziert. PRO ASYL unterstützt die Arbeit von Maldusa seit 2023 finanziell.
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