Zwischen Freude, Angst und Hoffnung: Die Lage in Syrien ist komplex und instabil

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Der schnelle Sturz des Folterregimes um Bashar Al-Assad überraschte die syrische Bevölkerung und den Rest der Welt. Als am 8. Dezember 2024 die Nachricht bekannt wurde, dass der Diktator Assad aus dem Land geflüchtet sei, versammelten sich Tausende Syrer*innen auf den Straßen in Syrien, im Libanon, in der Türkei und in vielen europäischen Städten: Voller Freude feierten sie das Ende der Ära Assad.

Und was tun deutsche Politiker*innen? Statt sich mit den Syrer*innen zu freuen und sie zu fragen, welche Unterstützung sie jetzt brauchen, fordern sie sofort und öffentlich die Rückkehr syrischer Geflüchteter nach Syrien. Eine reflexartige Forderung, die unrealistisch, gefährlich und unverantwortlich ist und jeglicher rechtlicher und sachlicher Grundlage entbehrt, sowohl mit Blick auf das deutsche Asyl- und Aufenthaltsrecht als auch auf die Situationen in Syrien.

Statt nach innen eine Diskussion über Asylverfahren und Rückkehr von syrischen Flüchtlingen zu führen, sollte sich die Bundesregierung darauf konzentrieren, Syrien auf dem Weg hin zur Achtung von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit zu unterstützen. Hierbei sollte insbesondere darauf gehört werden, was von den demokratischen Kräften und Aktivist*innen im Exil und in Syrien gefordert wird. Hierzu gehört, dass die Menschenrechtsverletzungen der vergangenen Jahrzehnte aufgearbeitet werden müssen und Gerechtigkeitsprozesse angestoßen werden sollten, um Selbstjustiz oder Racheaktionen zu verhindern. Zudem fordern die demokratischen Kräfte schnelle humanitäre Hilfe unter internationaler Koordination. Dabei könnte Deutschland eine zentrale Rolle spielen.

Die Lage nach dem Sturz von Assad ist extrem instabil und unsicher. Es existiert weder eine funktionierende Regierung noch gibt es organisierte Ministerien oder ein legitimiertes Staatsoberhaupt.

Die Situation in Syrien

Die Lage nach dem Sturz von Assad ist extrem instabil und unsicher. Es existiert weder eine funktionierende Regierung noch gibt es organisierte Ministerien oder ein legitimiertes Staatsoberhaupt. Nach dem Sturz des Assad-Regimes spielt Abu Mohammed al-Dscholani, der Anführer der HTS-Gruppen (Haiʾat Tahrir asch-Scham), eine zentrale Rolle. Diese Gruppierung führte die entscheidende Offensive gegen Assads Militär an. Al-Dscholani führt aktuell staatsmännische Gespräche mit verschiedenen Minderheitengruppen in Syrien und spricht auch mit internationalen Akteuren. Allerdings ist er weder demokratisch gewählt noch anderweitig legitimiert, diese Verhandlungen zu führen.

In den arabischen Medien wird Al-Dscholani teils als »Befreier« und »Revolutionsführer« bezeichnet, er selbst präsentiert sich als moderat. Dennoch ist seine Vergangenheit stark mit terroristischen Organisationen wie Al-Qaida verbunden, was ihn zu einer umstrittenen Figur macht. Die USA haben sogar ein Kopfgeld gegen ihn verhängt. Sein Hang zu radikalen Auslegungen des Islams in Kombination mit seinen aktuell unklaren politischen Absichten sind für viele Menschen beängstigend. Manche fühlen sich an die iranische Revolution der 1970er Jahre erinnert. Damals folgte auf die Revolution gegen den Schah im Iran schließlich eine islamische Republik, die bis heute mit großer Gewalt und Brutalität gegen Oppositionelle und Andersdenkende vorgeht.

Zudem haben sich viele ethnische und religiöse Minderheiten in Syrien aus Angst vor den HTS-Gruppen schwer bewaffnet, was das Potenzial für weitere Konflikte erhöht. Weiterhin überschneiden sich in Syrien auch zahlreiche geopolitische Interessen verschiedener Staaten, darunter die Türkei, der Iran, Russland, Israel und die USA, was die Situation zusätzlich verkompliziert. Die Sicherheitslage im Land wird vorerst instabil bleiben.

Situation der Minderheiten in Syrien

Die Lage der Kurd*innen und anderer Minderheiten in Syrien bleibt äußerst besorgniserregend. In den von der Türkei unterstützten Gebieten in Nord- und Nordwest-Syrien, insbesondere in Aleppo, sind die Kurden und christlichen Minderheiten massiven Bedrohungen ausgesetzt. Die Türkei verfolgt das Ziel, die kurdische Selbstverwaltung in Rojava (nordöstlicher Teil Syriens) zu stürzen und ihre Kontrolle über Gebiete, die von kurdischen Kräften gehalten werden, auszubauen. Die Angriffe islamistischer Milizen in der Region stellen eine erhebliche Gefahr für das Leben von Minderheiten dar und tragen zu einem fortschreitenden Verlust der kurdischen Präsenz in diesen Gebieten bei.

Ein weiterer besorgniserregender Faktor ist die fortwährende Verdrängung der kurdischen Bevölkerung und anderer ethnischer und religiöser Gruppen durch die türkischen Militäroffensiven. Organisationen wie die Gesellschaft für bedrohte Völker befürchten, dass die fortschreitende Offensive und die zunehmende islamistische Kontrolle die Lebensgrundlage der kurdischen und christlichen Gemeinschaften in Gefahr bringen. Besonders bedenklich ist, dass solche Entwicklungen mit internationaler Unterstützung, insbesondere durch die Türkei, verstärkt werden.

Diese Dynamik verstärkt die humanitäre Krise für diese Minderheiten, die sich zunehmend isoliert und bedroht fühlen.

Die humanitäre Lage in Syrien

Die humanitäre Situation bleibt auch nach dem Sturz von Bashar al-Assad sehr prekär. Auch wenn Assad keine Kontrolle mehr hat, bleibt das Land von Chaos und Gewalt geprägt. Große Teile der Infrastruktur sind nach Jahren des Krieges zerstört, was den Zugang zu Wasser, Strom und Gesundheitsversorgung weiterhin massiv erschwert. Viele Menschen leben unter extrem prekären Bedingungen.

Die Situation für die Bevölkerung bleibt auch wegen der andauernden Kämpfe zwischen verschiedenen Gruppen instabil. Dies hat zur Folge, dass Millionen von Menschen nach wie vor auf der Flucht sind, viele befinden sich in benachbarten Ländern oder leben in Flüchtlingslagern, wo die Bedingungen katastrophal sind. Eine Rückkehr in ihre Heimatregionen bleibt in dieser unsicheren und oft lebensbedrohlichen Lage für viele unmöglich.

Wirtschaftlich befindet sich das Land in einer tiefen Krise. Die Arbeitslosigkeit ist extrem hoch, und ein großer Teil der Bevölkerung lebt in Armut. Die Verteilung von dringend benötigten Hilfsgütern wird weiterhin durch die anhaltenden Kämpfe und blockierte Regionen erschwert.

Neben den physischen Schäden leidet die Bevölkerung auch unter den langfristigen psychologischen Folgen der Assad-Diktatur und des Krieges. Viele Menschen tragen schwere Traumata mit sich, für die es in vielen Gebieten kaum therapeutische Unterstützung gibt. Insofern bleibt die humanitäre Krise in Syrien nach dem Sturz von Assad weiterhin eine der gravierendsten der Welt.

Syrische Geflüchtete in Deutschland

In Deutschland lebt rund eine Million Syrer*innen. 607.000 haben eine befristete Aufenthaltserlaubnis auf Basis eines Schutzstatus des BAMF (340.000 Asyl oder Flüchtlingsschutz, 266.000 subsidiärer Schutz, 7.000 Abschiebungsverbote, siehe hier für die Aufschlüsselung). Bis Ende November 2024 stellten rund 72.000 Menschen aus Syrien erstmalig einen Asylantrag in Deutschland. Die (bereinigte) Schutzquote liegt derzeit bei fast 100 Prozent.

Die Situation syrischer Geflüchteter in Deutschland ist angespannt, vor allem emotional. Das wird verstärkt durch die Diskussionen über Abschiebungen und Rückkehr nach Syrien in der Vergangenheit und Gegenwart. Deshalb fordert PRO ASYL weiterhin einen bundesweiten Abschiebestopp nach Syrien.

Dies ändert sich nicht mit dem Sturz des Assad-Regimes, da Syriens Zukunft zum aktuellen Zeitpunkt völlig unklar ist. Unter den schon beschriebenen Umständen ist eine Rückkehr für Geflüchtete weder sicher noch realistisch. Besonders kritisch wäre es, mit Abu Mohammed al-Dscholani über eine erzwungene Rückkehr von Syrer*innen zu verhandeln. Er präsentiert sich zwar jetzt als moderater politischer Führer, hat aber eine radikale Vergangenheit und besitzt keine demokratische Legitimation.

Zudem können deutsche Politiker*innen und Verwaltung im Umgang mit dem Schutzstatus von syrischen Geflüchteten in Deutschland aus der Vergangenheit lernen. Nach dem Sturz von Saddam Hussein im Irak wurden zahlreiche Widerrufen des Schutzstatus ausgesprochen. Die Abschiebungen jedoch waren praktisch nicht umsetzbar, da die Betroffenen wegen des anhaltenden Chaos und der Unsicherheit im Irak nicht abgeschoben werden konnten. Somit blieben zahlreiche irakische geflüchtete Menschen in Deutschland, nun aber mit dem prekären Status einer Duldung und somit weitgehend entrechtet, in Deutschland.

Auch die Erfahrungen aus dem ehemaligen Jugoslawien-Krieg der 1990er Jahre zeigen, dass ein klarer Weg zu Bleiberechten langfristig effektiver, gesellschaftlich und wirtschaftlich sinnvoller und zudem humaner ist, als auf Duldungen oder Abschiebungen zu setzen. Diese Learnings sollten in die aktuelle Diskussion einfließen, um ähnliche Fehler zu vermeiden.

Gibt es eine Gefahr, dass syrischen Flüchtlingen der Aufenthalt entzogen wird?

Die nun direkt forcierte Rückkehr- und gar Abschiebungsdebatte verunsichert viele. Wer noch keine Niederlassungserlaubnis oder Interesse an der deutschen Staatsangehörigkeit hat, sollte sich hierzu beraten lassen. Grundsätzlich gilt aber: Wer einen Schutzstatus vom BAMF erhalten hat, sollte sich von der derzeitigen populistischen Debatte nicht verunsichern lassen: Eine baldige Abschiebung oder Rückkehr ist in diesen Fällen unmöglich und selbst im Falle eines Widerrufs dürfte in vielen Fällen ein anderer Aufenthalt, beispielsweise wegen guter Integration möglich sein. Allein deshalb ist diese Debatte realitätsfern und niederträchtig.

Denn ein Widerrufsverfahren und somit eine eventuelle Entziehung des Flüchtlingsschutzes oder subsidiären Schutzes ist keineswegs von heute auf morgen möglich. Zunächst muss das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) prüfen, ob die Grundlage für die Einleitung eines solchen Verfahrens gegeben ist. Hierfür muss die Veränderung der Umstände im Herkunftsland »erheblich und nicht nur vorübergehend sein, sodass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann« (§ 73 Asylgesetz). Auch wenn der Sturz des Assad-Regimes eine erhebliche Veränderung ist, ist aufgrund der unübersichtlichen Entwicklungen aktuell nicht absehbar, für wen es in Syrien künftig sicher ist und für wen nicht.

Bevor eine Widerrufsentscheidung getroffen wird, muss der betroffenen Person zudem die Möglichkeit zur mündlichen oder schriftlichen Stellungnahme gegeben werden (§ 73b Asylgesetz). Gegen die Entscheidung kann die Peron klagen – und angesichts der schon jetzt stark belasteten Verwaltungsgerichte würden die Gerichtsentscheidungen absehbar monate- bis jahrelang dauern.

Zudem muss das BAMF im Fall eines geplanten Widerrufs prüfen, ob nicht ein anderer Schutzstatus zugesprochen werden muss. Wenn der Flüchtlingsstatus entzogen wird, kommen gegebenenfalls der subsidiäre Schutz oder ein Abschiebungsverbot in Frage. Wenn der subsidiäre Schutz widerrufen werden soll, muss vielleicht trotzdem noch ein Abschiebungsverbot erteilt werden. Für ein Abschiebungsverbot spielt auch die humanitäre Situation vor Ort eine entscheidende Rolle sowie die Frage, ob die Person bei Rückkehr verelenden würde – was angesichts der kritischen humanitären Situation in Syrien droht.

Viele Syrer*innen haben seit dem Sturz von Assad den Impuls, nach vielen Jahren des Exils endlich wieder nach Syrien zu reisen: Sie wollen nach Jahren der Trennung endlich wieder engste Verwandte in die Arme schließen oder – leider auch eine brutale Realität für viele – versuchen zu klären, ob ihre Angehörigen das Gefängnisregime überlebt haben oder umgebracht wurden. Doch diejenigen, die keine deutsche Staatsangehörigkeit haben, müssen gut abwägen. Denn Reisen in das Heimatland könnten von den deutschen Behörden zum Anlass genommen werden, ein Widerrufsverfahren einzuleiten.

Populistische Rückkehrdebatte verunsichert

Angesichts der derzeitigen chaotischen Verhältnisse in Syrien stellt die Entscheidung, ob eine Person nach Syrien zurückkehrt, eine äußerst persönliche und komplexe Abwägung dar, die von zahlreichen individuellen und situativen Faktoren abhängt. Besonders in den benachbarten Staaten wie dem Libanon und der Türkei, wo die Lebensbedingungen für syrische Geflüchtete nach wie vor prekär sind und der Druck zur Rückkehr durch die jeweiligen Regierungen bereits seit längerem besteht, ist es nicht verwunderlich, dass eine größere Zahl Geflüchteter in Erwägung zieht, nach Syrien zurückzukehren. Jedoch lässt sich aus dieser Entwicklung nicht ableiten, dass eine Rückkehr für alle syrischen Geflüchteten unproblematisch oder gar sicher wäre. Noch weniger lässt sich auf dieser Grundlage eine Rechtmäßigkeit von erzwungenen Abschiebungen begründen.

Zudem haben sich viele Geflüchtete in den letzten Jahren in Deutschland und anderen Aufnahmeländern ein Leben aufgebaut; niemand kann erwarten, dass sie dies einfach aufgeben: Sie arbeiten in unterschiedlichen Berufsfeldern, ihre Kinder wurden hier geboren und gehen hier zur Schule.

Aussetzung der Asylentscheidungen für Syrer*innen

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat angekündigt, Asylentscheidungen syrischer Geflüchteter vorerst auszusetzen. Damit heizt das Bundesamt die Debatte an, ob es einen »Richtungswechsel« in der deutschen Politik im Umgang mit syrischen Flüchtlingen geben wird. Es ist jedoch zu befürchten, dass noch monatelang nicht klar sein wird, in welche Richtungen die Entwicklungen in Syrien gehen werden. Deshalb ist es fatal, wenn auf unabsehbare Zeit die Asylverfahren syrischer Asylsuchende auf Eis gelegt werden, sie damit großer Unsicherheit ausgesetzt sind und ihnen damit die Rechte, die sie nach einer Schutzgewährung hätten, verweigert werden.

(nb, wj)

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