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Für die Debatte über eine Zukunft in Afghanistan waren Stimmen aus der Zivilgesellschaft und von Frauenrechtler*innen für die Verantwortlichen also nicht relevant. Gleichzeitig zum Treffen forderte auch der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Nils Schmid, die Bundesregierung solle darüber nachdenken, »wieder Diplomaten nach Afghanistan zu entsenden« und die Botschaft wiederzueröffnen, da nicht davon auszugehen sei, dass die Taliban »in absehbarer Zeit ihre Macht wieder abgeben werden.«
Keine Legitimation für Verbrecher!
Damit wird ein fatales Zeichen gesendet. Anstatt die Stimmen der afghanischen Zivilgesellschaft (im Exil) zu stärken, soll das Taliban-Regime nun offenbar schrittweise legitimiert werden – auch, um Abschiebungen nach Afghanistan durchführen zu können? Denn was die faktische Lage im Land angeht, so hat sich nichts geändert oder verbessert.
»Unser Leben und unsere Zukunft wurden zerstört«
Dr. Alema Alema zum Jahrestag der Machtübernahme
Die aktuelle Situation in Afghanistan ist in jeder Hinsicht katastrophal
Nicht nur das politische System Afghanistans und die Sicherheitskräfte des Landes sind zusammengebrochen, sondern auch das Verwaltungssystem, das Justizsystem und das Bildungssystem wurden zerstört. Viele Menschen aus diesen Apparaten verloren ihre Jobs. Etliche Militäroffiziere, Soldaten und Sicherheitskräfte wurden verhaftet, gefoltert und ermordet, die UNAMA berichtete im August 2023 bereits von über 200 solcher Tötungen. Tausende mussten fliehen, einige wurden aus Nachbarländern wieder nach Afghanistan in den Tod abgeschoben.
Generell sind öffentliche Hinrichtungen, Auspeitschungen und willkürliche Verhaftungen in Afghanistan an der Tagesordnung. Ein Beispiel: Am 05.06.2024 ließ ein Gericht in der Provinz Sar‑i Pul insgesamt 63 Personen in einem Sportstadion öffentlich auspeitschen. Den 14 Frauen und 49 Männern werden unter anderem angebliche homosexuelle Handlungen, Diebstahl und andere »moralische Verbrechen« vorgeworfen.
Scharia als Waffe zur Einschränkung der Bürgerrechte
Mitte September 2021 ersetzten die Taliban das Frauenministerium durch das Ministerium für Gebet und Orientierung sowie für die Förderung von Tugend und die Verhinderung von Lastern. Es handelt sich um ein Organ zur Umsetzung der Scharia und der Dekrete der Taliban, um die Bürgerrechte zu untergraben. Gleichzeitig schlossen sie die Staatsanwaltschaft zur Bekämpfung frauenspezifischer Gewalt. Damit haben die Frauen des Landes jegliche politische und juristische Vertretung ihrer Anliegen verloren.
Die schrittweisen Fortschritte bei der Stärkung der Frauenrechte unter der Regierung der Islamischen Republik Afghanistans in den vorangegangenen 20 Jahren wurden zerstört. Seit Juni 2023 wurden landesweit mindestens 52 Dekrete erlassen, die die Rechte von Frauen und Mädchen einschränken. Frauen wurden systematisch aus allen Teilen der Gesellschaft ausgeschlossen. Mädchen ist der Schulbesuch ab der siebten Klasse verboten, Frauen dürfen weder arbeiten noch studieren oder sich frei bewegen. Sie dürfen nicht reisen, keinen Sport treiben, keine Parks oder öffentliche Bäder besuchen und nicht einmal allein das Haus verlassen.
Viele sind von Zwangsehen mit Taliban-Anhängern und brutalen Strafen wie sexuellen Misshandlungen in Haft, Auspeitschungen und Steinigungen bedroht. Anfang Juli 2023 wurde die Schließung der Schönheitssalons angekündigt. Damit verschwinden die letzten Schutzräume für Frauen. Darüber hinaus verlieren schätzungsweise 50.000 Frauen ihre Einkommensquelle in einem Land, in dem es kaum noch legale Verdienstmöglichkeiten für Frauen gibt.
Es herrscht eine Kultur der Einschüchterung und Straflosigkeit, mit der in den letzten Jahren alle international anerkannten Menschenrechte und Grundfreiheiten systematisch untergraben wurden.
Auch die freie Berichterstattung leidet. In den letzten Jahren hatte sich eine vielfältige Medienlandschaft entwickelt, aber laut Reporter ohne Grenzen wurden innerhalb eines Jahres fast 40 Prozent aller Medien eingestellt und über 76 Prozent der Journalist*innen verloren ihren Job – oder gaben ihn aus Angst vor den Taliban auf. In vielen Provinzen arbeiten gar keine Journalist*innen mehr.
Es herrscht eine Kultur der Einschüchterung und Straflosigkeit. Nicht nur, dass in den letzten Jahren alle international anerkannten Menschenrechte und Grundfreiheiten systematisch untergraben wurden. Die Taliban-Führung hat auch deutlich gemacht, dass sie kein Interesse daran hat, ihre Anhänger für die willkürliche Gewalt der Sittenpolizei zur Rechenschaft zu ziehen.
Die humanitäre Lage wird immer prekärer
Afghanistan steht vor der größten humanitären Krise seit der Machtübernahme der Taliban. Die letzten Jahrzehnte waren in Afghanistan geprägt von Konflikten, Armut und den Auswirkungen des Klimawandels. Im Jahr 2024 werden schätzungsweise 23,7 Millionen Menschen – mehr als die Hälfte der Bevölkerung – humanitäre Hilfe benötigen. Für Frauen und die ländliche Bevölkerung ist diese Existenzunsicherheit noch alarmierender, Millionen von Kindern sind von schwerer Unterernährung und lebensbedrohlichen Krankheiten bedroht. Die Ausgrenzung von Frauen aus dem Bereich der Wirtschaft trägt ebenfalls zu einer prekären Situation bei.
Die Situation ist vor allem auf den Zusammenbruch der Wirtschaft nach der Machtübernahme der Taliban im Jahr 2021 zurückzuführen. Dazu kommen Naturkatastrophen. Von Überschwemmungen im April 2024 waren 32 der 34 Provinzen betroffen, mehr als 250 Menschen starben.
Dennoch musste das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) aufgrund von Finanzierungsengpässen die Nahrungsmittelhilfe für rund zehn Millionen Menschen bis 2023 einstellen. Und seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 sind die Gelder der afghanischen Zentralbank eingefroren und unzugänglich, während internationale Sanktionen und Restriktionen den Zufluss ausländischer Gelder einschränken.
Mehr als 1,6 Millionen Afghan*innen haben seit August 2021 ihr Land verlassen, die meisten flohen in den Iran und nach Pakistan. Doch auch dort sind sie nicht sicher, wie sich seit Oktober 2023 dramatisch zeigt: Pakistan begann eine Abschiebungsoffensive, von Ende Oktober bis Februar 2024 wurden 541.000 Afghan*innen in die Hände der Taliban abgeschoben. Darunter sind auch Menschen, die für die Aufnahmeverfahren Deutschlands und anderer Länder nach Pakistan geflohen waren. Die Ausweisung aus Pakistan wird die humanitären Bedarfe noch erhöhen.
Auch Sicherheit herrscht nicht
UNAMA hat Kenntnis von 23 bewaffneten Gruppen, die sich zu Operationen in Afghanistan bekennen. Dazu zählen die Nationale Widerstandsfront, die Afghanistan Freedom Front und das Afghanistan Liberation Movement (ehemals Afghanistan Liberation Front) und der Islamische Staat in der Provinz Khorasan (ISKP).
Es gab beispielsweise Anschläge auf den Flughafen, das Außenministerium und eine Bank in Kandahar, bei denen sowohl Diplomaten als auch de-facto Sicherheitskräfte ebenso ums Leben kamen wie Zivilist*innen. Solche Anschläge und Kampfhandlungen treffen die Zivilbevölkerung überall in Afghanistan, die genannten Beispiele zeigen deutlich, wie prekär die Sicherheitslage in Afghanistan ist.
Wenn Gespräche über die Zukunft Afghanistans stattfinden, muss dies unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft und mit einer aktiven Beteiligung der Frauen geschehen!
Auch ist erwähnenswert, dass die Ermordung von Ayman al-Zawahiri, dem Anführer von al-Qaida, am 31. Juli 2022 im Herzen von Kabul stattfand, an einem Ort. Dieses Beispiel zeigt klar, wie die Taliban terroristische Gruppen in Afghanistan aufnehmen und ihnen Schutz bieten.
Abschiebungen aus Deutschland nach Afghanistan?
Angesichts der katastrophalen menschenrechtlichen, humanitären und Sicherheitslage kommen Abschiebungen nach Afghanistan nicht in Betracht. Entsprechend fatal ist es, wenn die Ministerpräsident*innen/Innenminister*innen zum Beispiel Bayerns und Sachsens genau das fordern.
Aus dem Folterverbot folgt: Niemand darf abgeschoben werden, wenn nach der Abschiebung Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung droht (Art. 3 EMRK, Artikel 4 der EU-Grundrechtecharta). Es gilt uneingeschränkt für alle Menschen – auch für Personen, die in Deutschland Straftaten begangen haben. Denn die Garantie der Menschenwürde gilt für alle Menschen, unabhängig von der Schwere der von ihnen begangenen Verbrechen. Ihre Strafen müssen sie in Deutschland verbüßen. Etwaige »Sicherheitszusagen« für die abzuschiebenden Straftäter sind von Seiten der terroristischen Taliban weder vertrauenswürdig noch zuverlässig und können damit eine menschenrechtswidrige Abschiebung nicht legitimieren.
Keine Normalisierung der Beziehungen zu den Taliban!
Wir unterstützen den Appell von Exil-Afghan*innen, insbesondere von afghanischen Frauen, an die internationale Gemeinschaft, die Fehler aus der Konferenz von Doha nicht zu wiederholen und Verbrecher nicht durch die Aufnahme von internationalen Beziehungen zu legitimieren. Wenn Gespräche über die Zukunft Afghanistans stattfinden, muss dies unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft und mit einer aktiven Beteiligung der Frauen geschehen!
(aa, mk)